Montagsblock /263

Die junge Frau, mit der ich am Wochenende unterwegs war, sah die Welt ganz anders als ich. Für sie waren die Häuser, die Straßen, die Bäckereien und Ausblicke nicht einfach nur jeweilige Umgebungen. Sie waren Instagram-Kulissen. Die Fotoausbeute des Wochenendes schien für sie insgesamt sehr ok gewesen zu sein. Es füllte sich eine Story, die für mich so aussah, als hätten wir gelungene Tage verbracht. Aber kann man einen Film schauen, wenn man parallel das “Movie-Night mit Popcorn” Foto editiert? Kann man ein Wochenende genießen, an dem man jederzeit fototauglich aussehen muss?

Die Beschwerde, die jungen Menschen seien zu sehr in der virtuellen Präsentation ihres glamourösen Alltags gefangen, um diesen Alltag selbst überhaupt noch mitzubekommen, ist natürlich ein Zeichen des eigenen Alters. Es scheint ja irgendwie zu klappen. Und man will ja auch nicht ständig der Miesepeter sein, der auf die vielen Studien hinweist, wie schlecht Social Media für junge Leute ist, wie suchterzeugend und wie alarmierend die Korrelation zwischen deren Nutzung und der Entwicklung von Essstörungen — da gab es erst kürzlich wieder zwei neue Studien, die genau diesen Zusammenhang nachweisen konnten. Aber zumindest darf man sich ja vielleicht freuen, dass man selbst noch ohne diesen ganzen Öffentlichkeitsdruck durch die anstrengenden Jahre der Pubertät und des frühen Erwachsenenlebens kommen konnte. Die waren schließlich so schon schwierig genug.

Wie schwierig, fiel mir eben gerade wieder auf, als ich auf der Suche nach spannenden neuen wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf eine spanische Studie stieß. Eine Überblicksarbeit genau genommen, in der es um Belästigung von Frauen in öffentlichen Verkehrsmitteln ging. 28 Studien aus 17 verschiedenen Ländern hatten die Wissenschaftler zu dem Thema gefunden und ausgewertet. Ihr Fazit: Überall sind Frauen von solcher Belästigung betroffen und überall passen sich Frauen daran an, etwa indem sie nicht alleine reisen oder ihre Reisezeiten und -routen entsprechend ändern. Frauen sollten daher viel stärker in die Verkehrsplanung einbezogen werden, so die Forderung der Forscher. Als ich das Abstrakt der Studie las, hatte ich kurz überfüllte spanische U-Bahnen vor Augen und spürte (während der Lektüre selbst im Zug sitzend) eine Art Erleichterung über die deutsche Zivilisiertheit des Reisens.

Wie es der Zufall so wollte, fuhren wir just bei diesem Gedanken in den Bahnhof Hannover ein, und ich erinnerte mich plötzlich daran, wie ich einmal auf dem Weg aus meiner Heimatstadt nach Berlin in Hannover von einem Schaffner aus der 2. Klasse in die 1. Klasse umgesetzt worden war. Der Grund war gewesen, dass mich ein Mann sehr aggressiv angebaggert hatte, ein anderer Mann daraufhin versuchte, mich zu beschützen, und beide fast eine Schlägerei begonnen hatten. Ich war damals 17, und mir war das alles sehr unangenehm. Beim Aussteigen wurde ich dann von einem Skatertypen in meinem Alter, der das alles mitverfolgt hatte, eingeladen mit ihm abends in Berlin Party zu machen. Es war ein Alter, in dem ich tatsächlich ständig in Zügen, S-Bahnen und U-Bahnen — neutral gesagt — in Kontakte mit Männern geriet. Hatte ich das damals irgendwie provoziert? War es das Alter? War es die Zeit damals? Dass ich das alles kurz vergessen hatte, kommt mir jetzt genauso absurd vor, wie die Geschichten selbst. Passiert ist glücklicherweise nie etwas.

Aber das Nicht-in-Ruhe-gelassen-Werden, die ständige Reaktion der Umgebung auf die eigene Präsenz, war vermutlich eine noch harmlose Vorform dessen, was heute junge Frauen in den sozialen Medien erleben. Und damals wie heute ist das Ganze hoch ambivalent. Denn natürlich freut man sich auch über positive Reaktionen, freundliche Rückmeldungen, bewundernde Blicke, wenn man gerade dabei ist, sich selbst in seinem Erwachsensein zu definieren. Auch ich hätte mit Anfang 20 sicherlich Wochenendstories auf Instagram gepostet und auf Likes gewartet (wobei es wohl einiges Geschick erfordert hätte, dem Physikstudentinnenalltag glamouröse Insta-Stories abzutrotzen). Und gleichzeitig kann man mit dieser Art von Rückmeldungen in all ihrer Oberflächlichkeit gerade nicht seine eigene Persönlichkeit entwickeln. Was soll man mit etwas anfangen, das ausschließlich an Äußerlichkeiten gekoppelt ist?

Philosophisch würde man sagen, dass man sich hier eine fundamentale epistemische Unterdeterminiertheit einhandelt: Man kann oft nicht unterscheiden, ob sich positive Rückmeldungen wirklich auf die eigene tolle Persönlichkeit, Intelligenz, Besonderheit, Charisma (und was einem in entsprechenden Kontexten noch so nachgesagt wird) beziehen, oder die sich davon völlig unabhängig doch nur aus dem Wunsch nach einer weiblichen Telefonnummer resultieren. Das ist übrigens Grundlage meiner küchenpsychologischen Theorie, warum so viele Frauen Probleme damit haben, sich selbst in ihren Fähigkeiten treffend einzuschätzen: In den prägenden Jahren hat man immer mit dieser Uneindeutigkeit zu tun — eine Erfahrung, die sich leider nicht selten bis in die Universitäten fortsetzt, wenn es Dozenten gibt, die Intelligenz loben und doch nur hübsch Kaffeetrinken wollen. Haben es junge Frauen heute damit schwerer? Sie haben es sicherlich nicht einfacher. Vielleicht sind sie selbstbewusster und aufgeklärter. Das wäre zumindest meine Hoffnung. Am Freitag ist Weltfrauentag. Vielleicht ein guter Anlass, um mal wieder ein paar wunderbare junge Frauen anzurufen und ihnen nicht-unterdeterminierte Verbal-Likes zu schicken.

Sibylle Anderl, Montagsblock /263

04. März 2024

Links:

Essstörungen und Social Media: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1740144523001262?via%3Dihub=

Zeit-Interview dazu: https://www.zeit.de/gesundheit/2024-02/social-media-essstoerung-jugendliche-koerperbild-studie/komplettansicht

Frauen und öffentliche Verkehrsmittel: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10901335/