MONTAGSBLOCK /67

Ich möchte heute über Musik schreiben, über eines meiner Lieblingsstücke, nämlich über Arvo Pärts Tabula Rasa, komponiert 1977, einem größeren Publikum mit dem gleichnamigen, bei ECM erschienenen Album 1984 bekannt geworden, gespielt von Gidon Kremer, Tatjana Grindenko, Alfred Schnittke und dem Lithuanian Chamber Orchestra. Das Album enthält auch zwei Versionen von Fratres, der wohl bekanntesten Komposition des estnischen Komponisten, in der ersten Version gespielt von Gidon Kremer und Keith Jarrett, in der zweiten von den zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker. Dieses Album ist eines der erfolgreichsten Alben dieses Genres überhaupt – die Musik von Pärt fällt aber bei der professionellen Kritik regelmäßig durch. Der bekannte Musikkritiker Volker Hagedorn hält Pärts Musik für noch langweiliger als die Kleine Nachtmusik und sieht darin fast Wellness-Musik. Ich nicht.

Arvo Pärt wurde 1935 in Paide, Estland, geboren. Er wurde von Schostakowitsch und Bartók beeinflusst und experimentierte in seiner Frühzeit mit Zwölftontechniken und seriellen Elementen, bevor er sich mit Collagetechniken beschäftigte. Seine modernistische Arbeitsweise traf auf Kritik der sowjetischen Kulturpolitik, was 1981 zu einer erzwungenen Emigration nach Wien führte, wo er auch die österreichische Staatsbürgerschaft erwarb. Von 1990 bis 2008 lebte Pärt in Berlin, seitdem wieder in Estland. 

Für das Werk von Pärt spielt die sakrale Musik eine herausragende Rolle. Anfang der 1970er Jahre der russisch-orthodoxen Kirche beigetreten, wurden Sakralität und Spiritualität zu den Grundelementen seiner musikalischen Ausdrucksweise, wobei er die spezifische Form östlicher Spiritualität ganz explizit in Kontakt mit den westlichen Hörgewohnheiten bringen wollte – und die Vermarktung der Musik spielt ganz ohne Zweifel mit dieser spirituellen Idee und befeuert damit auch die Musikkritik, Stichwort Wellness-Musik. Und es stimmt: Es ist besser, die Musik zu hören als die CD-Booklets zu lesen.

Seinen persönlichen Stil hat er 1976 in dem berühmten Klavierstück Für Alina entwickelt. Der sogenannte Tintinnabuli-Stil stellt eine maximale Form der Reduktion dar. Tintinnabulum ist das Glockenspiel, und der von Pärt entwickelte Stil lässt Dreiklänge gewissermaßen wie Glocken ertönen. Er vermeidet jede Ornamentik und ist von geradezu mathematischer Strenge. Der Tintinnabuli-Stil besteht aus einem Dreiklang, der als „Klingeln“ aufgelöst wird, sowie einer Melodiestimme, die dazu harmonisch durchaus in Spannung stehen kann. 

Ich hatte selbst im letzten Jahr das Vergnügen, die Berliner Messe mit dem Chor Capella Vocale München unter der Leitung von Dorothee Jäger mitzusingen. Diese Messe hat Pärt als Auftragsarbeit für den Katholikentag 1990 in Berlin komponiert. Das Erlebnis, selbst zwischen der Tintinnabulum-Regelmäßigkeit und der Melodiestimme zu wechseln, war hier noch stärker, als man es von außen hört.

Ja, diesem Stil wird bisweilen Banalität und Manieriertheit nachgesagt, besticht aber durch seine enorme Rekombinationsfähigkeit von Elementen und verzichtet tatsächlich auf weitere Elemente. Ich halte diese Musik gerade in ihrer Reduziertheit für eine besonders moderne Form. Für eine Form, die ein Element der Moderne stark macht, das man, kybernetisch oder systemtheoretisch ausgedrückt, als den Widereintritt der Form in die Form beschreiben kann. Letztlich besteht die Moderne aus der Erfahrung, dass Formen gegenseitig je in sich eintreten. Wir sehen das andere mit den Mitteln der eigenen Perspektive und müssen es gewissermaßen immer mithilfe der je eigenen Möglichkeiten wahrnehmen. Dadurch entsteht eine Ähnlichkeit, die erst Verschiedenheit möglich macht. Wie tritt die Dynamik des Ökonomischen in die Logik des Politischen ein? Wie kann Wissenschaft Resonanz dort erzeugen, wo sie glaubt, dass es ihrer Erkenntnisse bedarf? Wie können sich kulturelle Ausprägungen wechselseitig verstehen, wohl wissend, dass kein Blick aus der kulturellen Eigenlogik ganz ausbrechen kann? Wie kann der andere und die andere verstanden werden, wissen wir doch, dass wir ihn oder sie nur mit den je eigenen Mitteln verstehen?

Die Unübersichtlichkeit der modernen Welt ist nicht einfach Pluralität und Diversität, sondern die Erfahrung, dass sich selbst die Diversität nur von je diversen Perspektiven her erschließt. Es gibt keinen Standpunkt außerhalb. Wer auf etwas sieht, sieht immer von innen – und wird gesehen. Deshalb ist die Welt kaum erreichbar – außer aus dieser Gleichzeitigkeit von Innen und Außen.

Moderne Fragen sind nicht mehr Fragen danach, was etwas sei, sondern wie es operativ erreicht werden kann. Genau damit spielt diese Musik. In mathematischer Strenge werden im ersten Satz von Tabula Rasa immer längere Variationen desselben dargeboten, in acht Takten, dann in 13, 17, 22, 26, 31 bis 35 Takten, um dann in einem dramatischen Finale zu enden. Der zweite Satz, in d-Moll, variiert wiederum ein Motiv in unterschiedlichsten Modulationen. Sein Ende ist kein dramatischer Höhepunkt, sondern eher ein Spiel mit einer Ästhetik des Verschwindens, in dem die Musik im Hintergrundrauschen eines Nichts verschwindet – die Notation vermerkt am Ende vier leere Takte. Auch hier geht es letztlich um den Wiedereintritt derselben Form in Variationen. 

Ich kann nur empfehlen, die beiden Sätze zu hören – auf YouTube finden sich viele Aufnahmen, auch diese klassische. Und wenn man schon mal dabei ist, bitte auch gleich die Klavier/Violin-Version von Fratres, in provokativer Reduktion gespielt von Gidon Kremer und Keith Jarrett. Das Stück, das es in unterschiedlichsten Instrumentierungen gibt, stellt auch die Tintinnabuli-Akkorde einer Melodiestimme gegenüber und lässt dasselbe im Medium des Unterschiedlichen ertönen. Auch hier tritt die Form immer wieder in unterschiedlicher Gestalt in die Form ein. Das Glockenmotiv führt geradezu unerbittlich weiter, ermöglicht damit aber die Variationen der Melodie, die selbst wiederum auf Selbstähnlichkeit setzt, nicht einfach auf Pluralität. Selbstähnlichkeit ist nicht Identität, sondern eine besonders subtile Form der Differenz! Die große, die radikale Differenz, das kann jeder. Die subtile Differenz, die hat es in sich.

Es klingt auf den ersten Blick in der Tat einfach und banal – und das ist vielleicht die grandiose ästhetische Verkörperung dessen, was ganz offensichtlich auch Gegenreaktionen auslöst. Ich kann mir die Gegnerschaft der Musikkritik gegen Pärt nur so erklären: Es ist eine Provokation, eine solche Form der Komplexität, also der Rekombination der gleichen Elemente in einer mit Selbstähnlichkeit spielenden Form der Unterschiedlichkeit, wirklich als eine Form auszuhalten. Es könnte dieselbe Gegenreaktion sein, die es auch für die recht einfache (sic!) Behauptung von Komplexität als Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem gibt, dass dasselbe sich in den Variationen der unterschiedlichen Positionen nur ähnlich ist und nie identisch, nie festzuhalten. Es opponiert gegen Präsenz – und stellt sie im Zeitverlauf doch her.

Nun ist ästhetische Erfahrung immer idiosynkratisch, und zugegebenermaßen ist Arvo Pärt nicht der Einzige, der musikalisch mit einer solchen Form der Variation und der geradezu provokativen Wiederholung von Selbstähnlichkeit bei minimalen Abweichungen arbeitet – man denke an die Fuge, die etwas Ähnliches betreibt, an das Wohltemperierte Klavier zum Beispiel. Vielleicht hat der Generalbass im Barock eine ähnliche Funktion gehabt: eigentlich unsichtbar, oft nicht einmal notiert, zugleich aber Bedingung der Möglichkeit für melodische Variation. Aber diese Parallele, über die man noch viel sagen könnte, ist ja kein Gegenargument.

Wenn Kunst auch die Funktion hat, auf die Form hinzuweisen, indem sie Medien gerade nicht unsichtbar macht, sondern vorzeigt, dann sind Stücke wie Fratres oder Tabula Rasa Beispiele dafür, wie sich die Komplexität der Gegenwart vor allem in einfachen Formen zeigt. Wenn es nicht irgendwie aufgesetzt und peinlich klingen würde, würde ich nun schreiben: Es ist wie die sehr einfache und brutale Codierung unserer Welt durch relativ eindeutige Regeln wie die, dass ökonomischer Erfolg sich durch Zahlungen rechnet, dass Politik auf Macht beruht, dass man wissenschaftlich Wahrheitsansprüche formulieren muss, dass unsere Wahrnehmung aus selbst erzeugten Reaktionen besteht oder dass wir immer schon in unseren Perspektiven gefangen sind (was sich auch nicht ändert, wenn wir sie wechseln oder erweitern) – dass diese einfachen Voraussetzungen aber erst die Basis für eine ungeheure Bandbreite von Möglichkeiten sind. Alles ist möglich – aber begrenzt durch unsere je eigenen Möglichkeiten. Das kann man bei Arvo Pärt hören. Also: Ich höre es da.

Ist das eine Überinterpretation? Jede Interpretation ist eine Überinterpretation, weil sie mehr sieht als da ist. Und das ist ja exakt das Prinzip des Wiedereintritts der Form in eine andere Form.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /67, 08. Oktober 2018