Montagsblock /262

Der Mann, der das Hamas-Massaker leugnet. Armin Nassehi hat im letzten Montagsblock an ihm die Frage aufgeworfen, wo die Grenze des Diskurserträglichen in einer Demokratie verläuft. Oder anders gefragt: Wieviel Bullshit verträgt der demokratische Diskurs eigentlich? Daran schließt sich auch die Frage, ob man per se vernünftig sein muss, um in einer Arena der öffentlichen Vernunft mitdiskutieren zu dürfen. Hier einige Angebote zum konstruktiven Mitreden.

  1. Ludwig Wittgenstein schrieb im Vorwort zu seinem 1921 veröffentlichten Tractatus logico-philosophicus: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Die Folge könnte sein: Wer dümmer ist, sollte schweigen. Wer aber kann den Grad der Dummheit festlegen, ohne über den anderen willkürlich Macht auszuüben? Vielleicht hat Wittgenstein gemeint, was Amartya Sen vermutet: „Gescheiter zu sein kann uns auch befähigen, genauer über unsere Ziele, Zwecke und Werte nachzudenken.“ Nicht in dem Sinne, daraus selbst Kapital zu schlagen, sondern es sozial redlich zu tun und nicht auf den persönlichen Vorteil, sondern auf das Allgemeininteresse zu schauen. Ganz nach dem Motto: Nur wenn ich die engen Grenzen des Eigeninteresses und Eigennutzes überwinde, bin ich in jenem Sinne diskursfähig, dass ich auf den anderen Einfluss ausüben darf und mich in seine Perspektive versetzen kann.

Diskursfähig ist, wer sich uneigennützig in die Perspektivenvielfalt der anderen einbringen kann.

  1. Hier müssen wir ergänzend Adam Smith ins Spiel bringen. Sein unparteiischer Zuschauer, den er 1759 in der Theorie der ethischen Gefühle erstmals in die Diskussion bringt, eröffnet uns eine mögliche Lösung im öffentlichen Gebrauch der Vernunft. Smith löst es auf, dass er erstmals die Perspektivendifferenz als Voraussetzung betrachtet, diesen Diskurs zu führen und eine große Vielfalt von Gesichtspunkten und Ansichten aus allen Ecken der sozialen Meinungsverteilung zuzulassen. Für unseren Zweck übersetzt: Alle Objektivität korrespondiert mit der Fähigkeit, sachkundigen kritischen Einwänden aus unterschiedlichen Richtungen standzuhalten.

Diskursfähig ist, als unparteiischer Zuschauer die Perspektivenvielfalt in die begrifflichen Eigenlogiken einzubauen.

  1. Der schottische Kommunitarist Alasdair MacIntyre hat wiederum auf die Mittel-Ziel-Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Akteuren hingewiesen. „Jemanden als Ziel zu behandeln bedeutet, ihm anzubieten, was ich als gute Gründe dafür ansehe, auf eine bestimmte Art und nicht anders zu handeln, es aber ihm zu überlassen, diese Gründe zu bewerten. Es bedeutet, sich zu weigern, einen anderen zu beeinflussen, außer durch Gründe, die dieser andere für gut erachtet. Es bedeutet, sich auf sachliche Kriterien zu berufen, deren Gültigkeit jeder rational Handelnde selbst beurteilen muss. Einen anderen dagegen als Mittel zu behandeln bedeutet, ihn zu einem Werkzeug seiner Zwecke machen zu wollen, indem ich alle Einflüsse und Überlegungen berücksichtige, die sich bei dieser oder jener Gelegenheit irgendwie auswirken könnten.“

 Diskursfähig ist, wer unparteiisch die Haltungen und Positionen eines anderen mit den eigenen in Einklang zu bringen versucht. Andere sollten dabei immer Ziel, niemals Mittel sein.

Conclusio: Uneigennützig, unparteiisch, ohnmächtig. Der Dreiklang öffentlicher Diskursfähigkeit. In dieser Arena treffen Akteure zusammen, die einander als Ziel und nicht als Mittel betrachten. In der Perspektivendifferenz gelten Ziele und Logik, nicht Zwecke und Wahrheit. Der Mann, der das Hamas-Massaker leugnet, ist nicht diskursfähig. Er verfolgt den Zweck einer einzigen Wahrheit, die, umgedreht codiert, auch als Lüge daherkommen darf. Es geht dem Leugner ausschließlich darum, die demokratische Perspektivenvielfalt nicht anzuerkennen, ja, sie auf eine, nämlich seine Wahrheit einzudampfen. Eigennutz, Parteilichkeit und Machtgier schlagen kritische Auseinandersetzung und aufwändige Überzeugungsarbeit. Wer außerdem seine Diskursunfähigkeit mit dem Gemeinwohl verwechselt, zerstört die Demokratie.

Der Mann, der das Hamas-Massaker leugnet, ist leider kein Einzelfall. Die Diskursunfähigkeit nimmt weltweit zu. Ihre Liste wird vor allem weit oben immer länger: Trump schwingt sich zum Racheengel auf, Putin zum Vaterlandsretter, Neonazis beschwören die nationale Reinheit, Mullahs zerstören Menschenrechte … das Monoverse der Diskurszerstörer wächst!

Peter Felixberger, Montagsblock /262

26. Februar 2024

Literaturhinweise:

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt am Main 1963

Sen, Amartya: Die Idee der Gerechtigkeit. München 2010

Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg 2010

MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt am Main 1995