Montagsblock /261

Vor einigen Tagen traf ich einen Bekannten, Akademiker, gut verdienender Akademiker in leitender Position, mir bekannt als gelassener Typ, beruflich erfolgreich, bürgerliche Familienexistenz, ich teile mit ihm musikalische Interessen. Wir haben uns über Belanglosigkeiten unterhalten – bis wie selbstverständlich die Rede auf den 7. Oktober letzten Jahres kam. Fast unvermittelt meinte er, das Massaker der Hamas habe gar nicht stattgefunden. Schon an den verfügbaren Aufnahmen könne man sehen, dass das eine Inszenierung des Mossad und der IDF gewesen sein müsse, die ihre eigenen Leute umgebracht haben, um den späteren Angriff auf die Palästinenser rechtfertigen zu können. Er war sich seiner Sache ganz sicher, nur in einem Detail nicht – ob die Jugendlichen des Festivals und die Familienmitglieder in den grenznahen Kibuzzim und Orten wirklich getötet wurden oder ob das nur eine quasi filmische Inszenierung gewesen sei. Er neigte dazu, dass es wohl doch echte Morde waren, denn ansonsten wäre das Risiko zu groß gewesen, dass die Sache irgendwie rauskommt. Die Geheimdienst- und Militärangehörigen habe man da eher im Griff als Privatpersonen.

Ich bin selten sprachlos, aber da war ich es zunächst. Mein Gesprächspartner hat das mit einer extremen Sicherheit behauptet und war über mein Erstaunen ganz erstaunt. Ich habe ihm gesagt, dass mich diese Sprüche bei ihm doch wundern würden, ich hätte sie bei irgendwelchen islamistischen Gruppen oder bei kryptolinken Idioten erwartet, die derzeit die Universitäten unsicher machen, aber nicht bei ihm. Ich habe die Szenerie verlassen und werde diesen Zeitgenossen sicher nicht wieder konsultieren.

Aber der Mechanismus ist interessant – es scheint Leute zu geben, die schlicht das Unangenehme aus dem Sinn haben wollen. In der Psychoanalyse würde man das wohl Verleugnung nennen (in Abgrenzung zur Verdrängung, die eher als Triebabwehr verstanden wird), also die Ausblendung einer bedrohlichen oder unangenehmen Wirklichkeit durch kategoriale Leugnung des Offensichtlichen. Interessant ist der Mechanismus, weil er in letzter Zeit öfter aufgetaucht ist – immer dann, wenn Krisenhaftes erscheint, also Phänomene, die sich nicht einfach mit den Routinen des Altbekannten einordnen lassen. Ähnlich hat die gesamte Schwurblergemeinde in der Pandemie auf fast alles Plausible reagiert; so ähnlich arbeitet der gemeine Holocaust-Leugner; ganze Protestbewegungen können alles Ökologische oder mit dem Klimawandel Verbundene loswerden. Das Frappierende an solchen Reaktionen ist die unglaubliche Sicherheit und Bestimmtheit, mit der solche Einschätzungen daherkommen. Ihre Sozialform ist die der nicht-kritisierbaren konstativen Rede, die auch bei Aktivisten unterschiedlicher Couleur vorkommt. Hier wird klar gesagt, was ohnehin klar ist. Zweifel sind weder vorgesehen, noch können sie den Sprecher im Hinblick auf seine Sprecherposition erreichen.

Solche Positionen zeichnen sich dadurch aus, dass ihre andere Seite nicht einfach eine andere Seite mit einer anderen Sicherheit ist. Die Unterscheidung ist nicht die, ob es das Hamas-Massaker gegeben hat oder nicht, ob die geleugneten Sätze über die Pandemie stimmen, ob der Holocaust wirklich stattgefunden oder ob es den anthropogenen oder soziogenen Klimawandel überhaupt gibt. Das wären dann eben gegenteilige Sätze, die man mit ebensolcher Sicherheit behaupten könnte, um den Diskurs zu beenden, was ja durchaus vorkommt. Die andere Seite solcher Sätze ist nicht schlicht das Gegenteil, sondern ob sie Anschlussmöglichkeiten ausschließen oder öffnen. Für meinen Gesprächspartner waren seine Sätze über den Angriff der Hamas-Terroristen Sätze, an die man nicht mehr anschließen konnte, weil damit alles klar war. Sie traten auf als Kausalkette, die Argumente waren in Serie geschaltet, die Argumentationskette so klar, dass es keine Abweichung gibt. Deshalb sind solche Leute – wir kennen es auch aus den Auseinandersetzung über die Pandemie, über den Holocaust, aus der Flüchtlingskrise, über den Klimawandel usw. – auch nicht aufklärbar. Wer je versucht hat, einen solchen Schwurbler – bleiben wir bei diesem eher untechnischen Begriff – darüber aufzuklären, dass das Asylrecht nicht dazu dient, Deutschland „umzuvolken“ oder dass der Klimawandel keine Erfindung der Grünen ist oder die Pandemie nicht eine Strategie der Hochfinanz, wird erlebt haben, dass dann selbst die Widerlegungsversuche und die Argumente zur Verfestigung der konstativen Positionen beitragen. Man könne dann an den Bemühungen der mainstream-Eliten sehen, wie sehr sie sich bemühen, der Lüge Vorschub zu leisten. So ähnlich war es auch bei meinem Gesprächspartner.

Die andere Seite der Unterscheidung ist also nicht einfach der invertierte Satz. Die andere Seite der Unterscheidung ist, dass der invertierte Satz, also das Gegenteil des offenkundigen Unsinns, keineswegs alle Fragen beantwortet hat. Aus der Anerkennung des Hamas-Terrors in all seinen jegliche Zivilisiertheit verleugnenden Facetten ergibt sich gerade keine Sicherheit, sondern die offene Frage danach, was die angemessene Reaktion darauf ist. Die jetzigen Zerstörungen in Gaza sind keineswegs eine notwendige, also in serieller Kausalität unvermeidliche Folge des Terrorgeschehens, sondern eine kontingente Entwicklung. Man kann sogar die Strategie des israelischen Militärs kritisieren, ohne das Massaker zu leugnen – mein Gesprächspartner konnte es nicht. Und aus einer klaren Diagnose und Erkenntnis über das SARS-COV-2-Virus oder über die Wirksamkeit der Impfungen lässt sich keineswegs Eins-zu-Eins schließen, was die richtigen Maßnahmen sind oder gewesen wären, zumal sich die Schutzerwartungen der Impfung gegenüber während des Prozesses im Hinblick auf die Infektiosität der Geimpften verändert haben, die Impfung aber trotzdem Millionen Menschen das Leben und mancher Volkswirtschaft das Überleben gesichert haben. Und aus der Anerkenntnis des Klimawandels und des Zusammenhangs von CO2-Pollution und Erderwärmung ergibt sich nicht von selbst, welche Maßnahmen die richtigen sind und sein werden.

Erfahrungen werden dann zu Krisenerfahrungen, wenn man nicht eindeutig weiß, was zu tun ist, wenn routinisierte Muster fehlen, wenn die ohnehin unbekannte Zukunft noch unbekannter erscheint, wenn man nicht aushalten kann, dass Erwartungen auf eine zu offene Situation verweisen. Die Gegenreaktion besteht dann darin, zu klare Sätze, zu eindeutige Urteile, zu sicheres Wissen zu verwenden – und damit offene Anschlüsse zu vermeiden. Mein Gesprächspartner jedenfalls hat es geradezu lehrbuchhaft vorgeführt, wie riskant es am Ende für Viele ist, Uneindeutigkeiten auszuhalten und Sinnverschaltungen nicht seriell, sondern parallel anzuordnen, um es in der Sprache der Elektriker zu sagen. Der größte Blödsinn, die dümmste Bosheit und die absurdesten Lügen eignen sich offenbar besonders als Schutzmechanismus, weil sie aufgrund ihrer fantasmatischen Irrationalität gar nicht in die Nähe irgendeiner Widerlegbarkeit kommen. Das sei auch an die Adresse all jener gesagt, die geordnete Diskursverhältnisse einklagen, in denen man sich durch Anerkennung des anderen besser verständigen können soll. Was ich von meinem Gesprächspartner gelernt habe, ist dies: Es gibt Positionen, die kann man nicht einmal nicht anerkennen, weil sie die andere Seite diskutabler Positionen darstellen – im wahrsten Sinne des Wortes. Was verheißt das für die Auseinandersetzung mit den Abgebogenen, deren Zahl wächst – auf ganz unterschiedlichen Seiten übrigens? Nichts Gutes jedenfalls.

Armin Nassehi, Montagsblock/ 261

19. Februar 2024