Montagsblock 250
Was ist kritisches Denken?
Ein Staffelog zwischen Sibylle Anderl, Armin Nassehi und Peter Felixberger
Anderl: Die Pandemie hat viele Opfer gefordert. Der Begriff des „kritischen Denkens“ ist für mich eines davon. In den sozialen Medien ist er heute in so vielen Selbstbeschreibungen zu finden wie wohl selten zuvor – etwas, das mich als ehemalige Wissenschaftlerin eigentlich freuen sollte, denn die akademische Ausbildung will ja genau das leisten: Ein Training des kritischen Denkens, also des sorgfältigen und hartnäckigen Hinterfragens von Überzeugungen vor dem Hintergrund der in sie eingehenden Annahmen und Evidenzen. Auch die Prüfung der weiterreichenden Konsequenzen von Überzeugungen zählt dazu. Je verhärteter die Fronten im öffentlichen Diskurs sind, je weniger man es sich leisten mag, auch einmal Unrecht zu haben, desto schwerer fällt es aber, sich permanent auch selbst zu hinterfragen. Insofern ist kritisches Denken heute wichtiger denn je. Und es sollte mich freuen, dass so viele Menschen sich öffentlich damit identifizieren. Warum also der negative Beigeschmack? In meiner Wahrnehmung ist der Aufruf zu kritischem Denken für viele synonym geworden für ideologiegetränkte Elitenkritik. Kritisches Denken heißt da: Bloß niemandem mehr irgendetwas glauben, und vor allem den angeblichen Experten nicht. Das aber ist genau nicht das, was kritisches Denken eigentlich bedeutet.
Nassehi: Kurioserweise rechnen sich diejenigen, die jegliches Expertenwissen nach eigenem Gusto kritisieren und es sich so hindrehen, wie sie es gerade brauchen, dem „kritisches Denken“ zu. Das Kritische daran ist dann nicht so etwas wie Methoden- oder Theoriekritik, nicht Erkenntnis- und Selbstkritik, sondern vor allem Elitenkritik. Was offensichtlich immer schwerer auszuhalten ist, scheint die Erfahrung zu sein, dass es tatsächlich Unterschiede gibt: dass es Leute gibt, die sich mit bestimmten Dingen besser auskennen und dass deren Sprecherposition womöglich solchen vorzuziehen ist, die weniger Expertise besitzen. Der Autoritätsverlust von Eliten, auch von wissenschaftlichen Eliten, ist deshalb durchaus von einiger Doppelbödigkeit: es erfüllt einerseits den Imperativ der Kritikfähigkeit und des Hinterfragens von Autoritäten und sieht aus, als würde es den Pluralismus befördern: es verzichtet andererseits darauf, Kriterien der Kritik und Sachkriterien für die eigene Position jenseits ihrer Behauptung zu benennen. Nicht selten nimmt solche Kritik selbst ästhetisch eine Form an, die der wissenschaftlichen Form ähnlich ist. Sie verweist auf alternative „Forschung“, auf „Erkenntnisse“, auf eigentliche Datensätze und Studien, und sie markiert sich selbst durch Benennung akademischer Titel. Mehr explizit genannte oder auf Papiere und Bucheinbände gedruckte Doktor- und Professorentitel als bei den eher zweifelhaften Kritikern der Wissenschaft findet man selten.
Felixberger: Kritisches Denken basiert auf sorgfältigem und zielgerichtetem Überlegen. Immer mit dem Ziel, zu einem Urteil zu gelangen. Es geht um das Urteilen auf Basis vorher festgelegter Maßstäbe. Den Übergang von Prämissen zur Konklusion kann man üben, sagt die analytische Philosophie. Üben beginnt ihrzufolge mit dem Bewusstwerden von Hindernissen und Täuschungen, die uns das kritische Denken erschweren oder uns im Weg stehen. Derzeit sehr beliebt ist die vorschnelle Schlussfolgerung. Ein Beispiel mit drei Prämissen und einer Conclusio: In einem Flüchtlingsboot sitzen viele Menschen, die in Seenot gerettet werden. Immer mehr Flüchtlinge suchen in Europa Asyl. Das überfordert unsere soziale Aufnahmekapazität. Die Konklusion von rechter Seite: Die Überfremdung zerstört Nation und Vaterland. Flüchtlinge sollen bleiben, wo sie sind. Was wir an diesem Beispiel beobachten können, ist das Prinzip WYSIATI (what you see is all there is). Der US-Psychologe Daniel Kahneman meint damit, dass wir sehr oft nur von dem ausgehen, was wir sehen. Die Bilder transportieren nur einen Teil der relevanten Informationen. Das daraus resultierende Urteil ist vorschnell und entzieht sich weiterer perspektivischer Überprüfung (etwa Fachkräftemangel in Deutschland, Flüchtlingskonvention, sinkende Bevölkerungszahl). WYSIATI ist mittlerweile fast überall. Noch ein Alltagsbeispiel: Der Täter hatte blaue Jeans an (1). Armin hat blaue Jeans an (2). Armin ist der Täter (3). Der Denkfehler ist offensichtlich. Neben Armin gibt es Millionen Menschen, die eine blaue Jeans tragen. Kritisches Denken fängt also mit dem Entlarven von Denkfehlern oder schwachen Gründen an (what you see is only a small part). Siehe Flüchtlingsboot.
Anderl: Die von Kahneman so eindrucksvoll aufgeführten Fallstricke des kritischen Denkens illustrieren wunderbar die Wichtigkeit der von mir oben schon erwähnten anstrengenden Variante des kritischen Denkens: Nämlich nicht nur fremdes, sondern vor allem auch das eigene Denken und Schließen permanent zu hinterfragen. Man neigt gerne zur Verdrängung des Ausmaßes dessen, wie sehr uns die menschliche Psyche beim kritischen Denken im Wege stehen kann — sei es durch es Biases, Vorurteile, anekdotische Evidenz, bei Schlüssen aus zu kleinen Stichproben, durch Voreinstellungen bei Schätzungen oder aufgrund der verbreiteten Defizite bei Statistik- und Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. Davon ist jeder betroffen. Die wissenschaftliche Methode kann helfen, solche Fehler aufzudecken, und gleichzeitig sind auch Wissenschaftler nicht immer frei davon. An dieser Stelle ist der kritische und konstruktive Diskurs wichtig, in der Forschung wird er durch permanente Präsentationen, Diskussionen und Praktiken der gegenseitigen fachlichen Beurteilung erreicht. Interessant, dass die elitenkritische “Alternativforschung” sich nun nicht genau auf diese zentrale qualitätswahrende Eigenschaft des akademischen Systems bezieht, wie Armin hervorhebt, sondern gerade auf diejenigen Elemente, die in ihrer hierarchischen Ausrichtung für solch einen kritischen Diskurs eher hinderlich sind: Akademische Titel und exklusiv zugängliche, nicht breit geteilte angebliche Evidenzen. Das Problem der zunehmenden Unfähigkeit, eines um das kritische Denken herum geteilten breiten Diskurses liegt vielleicht auch daran, dass er Mut erfordert: Eigene Fehlurteile zuzugeben macht angreifbar. Der argumentative Gegner bekommt ein weiteres Argument, sich selbst im Recht zu fühlen und den Gesprächspartner zu diskreditieren. Gleichzeitig braucht es diese Fähigkeit aber für den konstruktiven Dialog. Wer gibt als erster zu, dass kritisches Denken nie perfekt ist und nicht im Rechthaben, sondern vor allem auch im Erkennen eigener Fehler besteht?
Nassehi: So gesehen, müsste Peter einen Fehler zugeben, denn sein Alltagsbeispiel ist leicht zu widerlegen. Armin würde niemals blaue Jeans anziehen, denn er hat nur schwarze Hosen, folglich kann er nach dieser Beweisführung nicht einmal nicht der Täter sein. Was nun freilich aussieht wie eine gelungene Widerlegung, ist es nicht. Denn vorschnell hat Armin gedacht, Armin sei er selbst. Dabei gibt es noch andere Menschen dieses Namens. Das zeigt, dass kritisches Denken schon dort beginnt, wo man überhaupt die Randbedingungen eines „Falles“ beschreibt. Wie fragil und voraussetzungsreich jede wissenschaftliche Beschreibung und Beweisführung ist, lässt sich schon daran erkennen, dass Wissenschaft – entgegen mancher Behauptung – gar nicht in der Lage ist, die Wahrheit oder das Seiende oder das, was der Fall ist, unabhängig von seinen eigenen Begriffen, Prämissen, Theorien, Methoden, selbsterzeugten Daten und begrenzten Perspektiven in den Blick zu nehmen. Wissenschaftliches Denken kann nur als kritisches Denken gedacht werden, wenn es wissenschaftliches Denken sein will, denn wenn es die eigene Erzeugung ihres Gegenstandes mit einem quasi beobachterunabhängigen Gegenstand verwechselt, simuliert es mehr Sicherheit, als wissenschaftlich möglich ist. Die größte Gefahr für wissenschaftliches Denken ist also, sich zu sicher zu sein (nur in einer Hinsicht bin ich ein unverbesserlicher Ideologe: keine blauen Hosen!)
Felixberger: Ich möchte abschließend auf eine weitere Gefahr für kritisches Denken hinweisen. Die Prämissen stimmen, aber die logische Konsequenz daraus ist falsch. Beispiel: Alle Männer sind Menschen (1). Alle Frauen sind Menschen (2). Also gilt: Alle Männer sind Frauen (3). Die Verknüpfung der beiden Aussagen 1 und 2 reicht nicht aus, um 3 zu begründen. Die Schlussfolgerung ist deduktiv ungültig. Leider ist die deduktive Falle im kritischen Denken weitverbreitet. Vor allem, wenn es um Entscheidungsfindungen geht. Ich leite aus stimmigen Prämissen eine falsche Entscheidung ab. Der Widerspruch könnte in der Ausschließlichkeit rationaler Logik liegen. Sagt die moderne Gehirnforschung. Das Kritisch-Rationale vergisst den Anteil von emotionalem und bildlichem Wissen. Der Gehirnforscher Ernst Pöppel hat das so formuliert: „Wenn ich nur auf explizit-rational setze und das emotionale, implizite Wissen vergesse, mache ich mich zu einer Karikatur meiner selbst.“ Siehe: Alle Männer sind Frauen. Es gelte vielmehr, so Pöppel, die verschiedenen Formen des Wissens (explizit-sprachlich, intuitiv-implizit und bildlich-emotional) zusammenzubringen und nicht gegeneinander auszuspielen. Denn das Begriffliche und das Bildliche sind immer emotional eingebettet. Beispiel: Alle Flüchtlinge sind Menschen (1). Alle Menschen wollen sicher und geborgen leben (2). Also wollen alle Flüchtlinge sicher und geborgen leben (3). Das ist kritisches Denken.
Sibylle Anderl, Peter Felixberger, Armin Nassehi – Montagsblock /250
04. Dezember 2023