Montagsblock /251

Heute Abend (19.30 Uhr) sende ich wieder live aus der Blackbox der Münchner Volkshochschule Nord. Meine alljährliche Liste der besten Sachbücher. In diesem Jahr ist mir besonders ein Buch aufgefallen, dessem Sog ich mich seit Wochen nicht mehr entziehen kann. „Risse in der Erde“ des amerikanischen Reporters Mark Arax. 734 Seiten. „Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien“. Übersetzt von Eva Schestag, mit der wir übrigens vor Jahren bei unserem Ai Weiwei-Manifest (in der kursbuch edition) zusammengearbeitet hatten.

Mark Arax rekonstruiert zum einen die Geschichte seiner Familie. Zu Beginn der Großvater, der sich als 16-Jähriger auf einem Dachboden in Konstantinopel verstecken musste, um dem Völkermord an den Armeniern zu entgehen. Mit einer Bücherkiste voller französischer Klassiker – Maupassant, Verlaine und Baudelaire. Die Verwandtschaft sammelt schließlich Geld, damit er an der Sorbonne studieren könne. Doch ein Onkel schreibt ihm parallel Briefe „aus einem Garten Eden mit Granatäpfeln und Pfirsichen“. Der Lockruf aus Fresno in Kalifornien war stärker.

In einem wilden Zickzack-Kurs treibt uns der Autor in seiner grandiosen Familiengeschichte durch die Weiten des Landes („Unsere Eroberung der Flüsse begann 1868, als John B. Sweem den ersten Graben im Tal aushob und dabei den Hauptarm des Kings River anzapfte, um seine Getreidemühle in der Nähe von Centerville zu betreiben“), er peitscht uns durch die Abgründe des Big Ag („Das Valley ist übersät von Männern, die die Ranch der Familie an weitentfernte Investoren verkauft haben, nur um es dann bis ans Ende ihrer Tage zu bereuen“) und zerrt uns durch den gegenwärtigen Obstimperialismus, der die Sinne außer Rand und Band bringt. Etwa Rosinen („Es war eine Feldfrucht, die sich in der Mitte des Valley aufgrund der leichten Erreichbarkeit von Wasser mühelos gewinnbringend anbauen ließ. Und Rosinen verdarben nicht, man konnte sie jahrelang tonnenweise aufbewahren. Mit jeder Ernte wurden es noch mehr Tonnen“). Reportage, Geschichte und Memoir.

Das Erzählprinzip ist verschwenderisch üppig: Facetten treffen Faszien. Faszien treffen Augenblicke. Augenblicke versickern im Sand. Nichts ist unwichtig, weil es irgendwo anders wieder hochkommt, neue Bedeutung und Aufladung findet. Und so treffen wir unter den vielen Akteuren auch Grover Wickersham, ein Farmer, der seine 5000 Hektar Mandeln und Pistazien eines Tages für 78 Millionen Dollar verkauft. An einen Versicherungsriesen, der alles einebnet und noch mehr Profit aus der Erde holen will. Same as it ever was! 3700 Kilo Nüsse pro Hektar. Wasserverbrauch exorbitant. Nachhaltigkeit, verpiss dich. So läuft das Geschäft.

All das wird beiläufig erzählt, keine Auswertung, keine Bewertung, keine Umwertung. Einfach nur ein langer, malmender Erzählstrom. Wie in Shakespeares Theaterwelt. Vorne auf der Bühne wird ein Stück gespielt, hinten werden bereits neue Stoffe und Inhalte vorbereitet. Jede Einordnung ist zwecklos, weil der Perspektivenfuror stärker ist als jede Wahrheit. Ja, meine Damen und Herren, das ist mein Sachbuch des Jahres. Ein herrliches Kleinod in dieser aufgeplusterten Medienmoderne, in der jeder Meinungspfurz in der Kläranlage des Rummels gehört werden will. Staubkorn schlägt Plastiktüte.

Die Übersetzerin Eva Schestag hat übrigens während ihrer Übersetzungsarbeit Mark Arax besucht. In einem Begleittext schreibt sie, als sie gerade irgendwo an einem Kreisverkehr mit fünf Ausfahrten angehalten hatten: „In Five Points gab es buchstäblich nichts außer Lassen Market, einem kleinen Supermarkt, der, wie Mark wusste, von einer chinesischen Familie geführt wurde … Von einzelnen Schuhen über unsortierte Schrauben und Cream Crackers gab es einfach alles, was fleißige Hände in einem Leben am Rande einer Überflussgesellschaft zusammenzutragen und aufzubewahren vermögen.“ Schestag findet eine chinesische Anthologie „Seltsame Geschichten aus alter und neuer Zeit“ aus dem 17. Jahrhundert im Schuber. Die Frau an der Kasse schüttelt den Kopf: „Unverkäuflich“. Sie wisse nicht, ob ihr Vater daraus nicht noch die eine oder andere Geschichte lesen möchte. Sie selbst sprach kein Chinesisch. Mark Arax lächelte nur und meinte beim Hinausgehen, dass Five Points und Lassen Market der Stoff für eines seiner nächsten Bücher sei.

Mark Arax: Risse in der Erde. Auf den Spuren von Wasser und Staub durch Kalifornien. 734 Seiten. Matthes&Seitz, Berlin 2023. 38 Euro

Peter Felixberger – Montagsblock /251

11. Dezember 2023

P.S.: Wer noch auf der Suche nach dem richtigen Weihnachtsgeschenk ist – zur Veranstaltung mit Peter Felixberger (online) geht es hier entlang. Heute Abend um 19:30 Uhr geht es los. Anmeldung hier: https://www.vhs-erding.de/p/kultur-gesellschaft/literaturclub-theaterclub/die-besten-sachbuecher-des-jahres/peter-felixbergers-buchempfehlungen-664-C-C1301