MONTAGSBLOCK /21

Peter Felixberger hat vor zwei Wochen an dieser Stelle eine hübsche Geschichte erzählt, deren Quintessenz ist, dass ein „weiser Richter“ eine Lösung für eine Erbstreitigkeit anbietet, die alle Beteiligen zufriedenstellt. Die Geschichte ist schon deshalb schön, weil sie unsere Sehnsucht nach Lösungen aus einem Guss befriedigt. Peter Felixberger singt hier das Hohelied des kompetenten Experten, der eine Lösung für alle haben und damit ein „Wunschergebnis für alle“ erreichen kann. Wäre die Geschichte hier zu Ende, bliebe sie eine schöne Geschichte. Aber sie fängt hier erst an. Denn Peter Felixberger belässt es nicht dabei. Er beklagt, dass man in Politik und Wirtschaft solche Weisheit vergebens findet – dort würden „auf Teufel komm raus“ oft 5,5 statt 6 Kamele verteilt. Demokratie funktioniere aber anders: Diskurs- und politikfähig sei nur der, der sich uneigennützig und unparteiisch in die Perspektivenvielfalt der anderen einbringen könne.

Dies möchte ich entschieden bezweifeln. Unparteiisch zu sein läuft der Logik des Politischen geradezu diametral entgegen. Eine „Rationalität für alle“ wird und kann es in modernen Gesellschaften nicht geben. Dieses Fantasma kann nur derjenige pflegen, der in einer komplexen Welt eine Expertise für so objektiv halten kann, dass die anderen bei entsprechend rational verwendeter Vernunft uneigennützig zustimmen müssen. Ganz abgesehen davon, dass es im politischen Geschäft eben nicht nur um Sachfragen, sondern auch um schlichte Interessen geht, die sowohl diametral entgegengesetzt als auch legitim sein können, gibt es die Demokratie nur, weil sich Politik eben nicht mit Wahrheitsansprüchen machen lässt.

Politik verhandelt nicht über Wahrheitsfragen, sondern über Macht-, Mehrheits- und Legitimationsfragen. Politik ist keine Wissenschaft – und Wissenschaft sollte keine Politik sein, weil sich dann Wahrheits- in Machtfragen verwandeln. Demokratie lebt davon, entgegengesetzte politische Lösungsvorschläge, Programme und Überzeugungen gegeneinander antreten zu lassen. Erst diese Opposition von Lösungsmöglichkeiten erzeugt überhaupt die Notwendigkeit für diejenigen, die die Macht haben, gute Gründe dafür zu nennen, was sie andernfalls ohnehin tun könnten. Die politische Misere, die wir derzeit beobachten, hat viel damit zu tun, dass zivilisierten politischen Spektren kaum mehr gelingt, dass Sachalternativen gegeneinander antreten und in einen Streit um Lösungen treten, statt sich in einen rational genannten Konsens zu flüchten. Macht lässt sich legitimerweise nur dann ausüben, wenn sie im Horizont anderer Möglichkeiten ausgeübt wird. Peter Felixberger aber hätte gerne eine Politik jenseits von Machtfragen – als könnten Experten jemals auf eine gesamtrationale Lösung kommen, die dann jenes „Wunschergebnis für alle“ erreicht. Das ist nicht Aufgabe von Wissenschaft. Wissenschaft und Expertise bestehen in erster Linie in wissenschaftlich begründeten Nein-Stellungnahmen zu Lösungsmöglichkeiten, mit dem Ziel besserer Ergebnisse. Expertise ist nicht politikfähig – sie muss erst in Politik übersetzt werden. Wer daran vorbeisieht, negiert die Notwendigkeit von Macht.

Und das ist mein Verdacht gegen Peter Felixbergers Perspektive. Er scheint von einer Politik und einer politischen Öffentlichkeit zu träumen, die sich der Wahrheitsfähigkeit von Sätzen unterwirft. Um das erreichen zu können, braucht man keine Expertise, weil es zur Expertise stets alternative Expertisen gibt. Dazu braucht man eher eine Figur, die unparteiisch über den Perspektiven steht – und dies bietet die Figur des „weisen Richters“ tatsächlich an. Aber dieser ist nicht umsonst ein Richter und eben kein Präsident oder Bundeskanzler. Der Richter löst einen Rechtsstreit – zwar auf geniale Weise, aber eben nur einen Rechtsstreit, bei dem alle Parteien zufriedengestellt werden. Für Politik taugt das nicht. Politische Entscheidungen lassen sich nicht durch Jurisdiktion fällen – es sei denn, alle rechtlichen und politischen, womöglich auch alle ökonomischen Rationalitäten müssten in dieser Zentralfigur aufgehen. Das ist nicht weit vom Platonischen Philosophenkönig entfernt, auch nicht weit vom aufgeklärten Absolutismus Friedrichs des Großen. Das Problem solcher Herrschaft ist, dass man dann von der Klugheit und der Güte des Herrschers abhängig wird. Moderne Rechtssysteme versuchen das dadurch zu vermeiden, dass sie in ihre Entscheidungen unterschiedlichste wechselseitige Kontrollmechanismen einbauen, moderne Demokratien vermeiden es, politische Lösungen als Wahrheitsfragen anzusehen, und moderne Marktwirtschaften emanzipieren das Eigeninteresse als eine spezifische Form der Freiheit. Das ist kompliziert, fehlerbehaftet, anstrengend – und schließt einen öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit dem Ziel der Beglückung aller aus. Das ist schade – aber gut so.

Beduinen seien schlau – schreibt Peter Felixberger. Das mag sein – in einer Gesellschaft, in der die Autoritätsfragen schon geklärt sind, bevor man mit dem Entscheiden beginnt. Sich aber auf die Schläue oder gar die Güte eines Weisen zu verlassen – das ist viel riskanter als die überbordende Form wechselseitiger Kontrollkomplexität einer unübersichtlichen Gesellschaft, deren Lösungen immer die Basis für neue Probleme sind. Manchmal müssen es eben 5,5 Kamele sein.

Sein Mitherausgeber sei nicht schlau, schrieb Peter Felixberger vor zwei Wochen. In diesem Sinne hat er wirklich Recht.

Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /21, 05. Dezember 2016

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