MONTAGSBLOCK /22

Armin Nassehi hat vor einer Woche mit messerscharfer Logik versucht, meine kleine 6-Kamele-Kompetenztheorie auseinanderzunehmen. Sein Haupteinwand in Kürze: Ich würde mich einer gewissen Romantik hingeben, wenn ich in einer Demokratie von weisen Entscheidungen ausgehen würde. Der Weise sei ein Auslaufmodell, gestrandet auf dem Scheiterhaufen beliebiger Rationalitäten und Erkenntnisse. Unmöglich sei der Weisheit letzter Schluss, retourniert er deshalb, denn es ginge immer um Macht- und Hegemonieinteressen, die das Politische dominieren. Politik lasse sich daher nicht mit Wahrheit in Verbindung bringen. Sie ist Mittel zum Zweck. Mein Konsensgefasel, wenn ich das selbst so sagen darf, strande überdies an den scharfen Realitätsklippen des Postfaktischen. Dort, wo lauter Lügen herrschen, wie unser nächstes Kursbuch heißen wird.

Klingt alles plausibel. ABER! Was Armin Nassehi ausklammert, ist die Gefahr, dass im politischen Machtspiel mittlerweile jeder Dorfdepp mitreden und wirkmächtig werden kann. Und wenn es ihm sogar gelingt, den nationalen Machthügel zu erklimmen, darf er sogar Präsident der mächtigsten Länder der Welt sein. Es gibt längst einen ungezügelten und bahnbrechenden Weg ins jeweilige Herz der Macht, der denen da unten das Gefühl gibt, wieder allmächtig sein zu dürfen. Und morgen die ganze Welt, tönt es aus noch dunklen Hinterzimmern, überall und jederzeit. Dort aber, lieber Armin, wird gerade Wahrheit festgezimmert. Ohne Alternative für Deutschland! Ohne Rücksicht auf jede Perspektivendifferenz. Und ohne uns!

Es wird deshalb nicht reichen, lieber Herausgeberkollege, wenn wir Demokratie und Marktwirtschaft am Ende nur als kompliziert, fehlerbehaftet und anstrengend durchkonjugieren. Und gestatten: Die diesbezügliche Unmöglichkeit einer Gesamtrationalität für alle ist auch nicht besonders neu. Besonders neu ist aber, dass sie in den Drehbüchern öffentlicher Vernunft nicht mehr angestrebt wird. Dort wird vereinfacht, niedergetreten, herumgebrüllt und gefühlsgeduselt. Im Namen der Perspektivenvielfalt hat jeder einen Schuss. Und irgendeine Sau wird immer getroffen. Hinzu kommt: Auch die bessere Lösungsperformance im Lichte wissenschaftlicher Falsifizierung tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Zwar schafft die wissenschaftlich konsistente Abbildung einer Perspektivendifferenz oder sozialen Meinungsverteilung Übersicht und Ordnung, lässt aber viele Bürger im irrationalen Getöse des Postfaktischen rat- und orientierungslos zurück. Was kann ich glauben, was ist Fake und wer hat recht? Was ist unsere Demokratie noch wert?

Ganz ehrlich: Das sind keine Fragen der Macht, sondern einer diffusen Angst vor Kompetenz. Lieber Armin, an dieser Fahne müssen wir weben. Die Menschen sollten wieder verstehen lernen: Es geht in einer Demokratie nicht darum, wer genau die Macht inne hat, sondern wie sie theoretisch so verteilt und gleichzeitig wieder vereinheitlicht wird, dass jeder daran partizipiert und parallel die Vorstellung verinnerlicht, sowohl mitzuregieren als auch regiert zu werden. Man schließt deshalb immer wieder einen Vertrag miteinander und füreinander. Und zwar in einer Ausgangssituation, in der alle ihre eigene Macht aufgeben und sich der Macht des Rechts und der Autorität politischer Institutionen unterordnen. Dafür werden sie im Gegenzug als hypothetisch Freie und Gleiche betrachtet und mit Rechten, Gütern und Lebenschancen ausgestattet, um miteinander zu kooperieren und eine neue Semantik zu etablieren. Es geht um eine beiderseitige Gewinnbeziehung. Der Einzelne verteilt und erhält gleichzeitig Macht nach oben. Niemand wird bevorzugt oder benachteiligt. Wir nennen es Demokratie. Diese Weisheit haben auch schon viele vergessen.

Bevor ich aber in diese „Romantik“ abgleite, gebe ich zurück an „Radio Armin“.

Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /22, 19. Dezember 2016