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Qua Profession wühlt sich Peter Felixberger pro Jahr durch Berge von Manuskripten, Buchideen, Exposés und Ideenskizzen. Bei circa 65.000 Neuerscheinungen pro Jahr gleicht die Suche nach dem nächsten Bestseller der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Einmal pro Jahr stellt unser Herausgeber (und ehemaliger Buchhändler) die aus seiner Sicht interessantesten Sachbücher des Jahres vor – der optimale Weihnachtswegweiser für Leserinnen und Leser. Seine Longlist: 

Aaron Sahr: Die monetäre Maschine. C.H.Beck (Jan 2022)

Aaron Sahr ist Wirtschaftssoziologe am Hamburger Institut für Sozialforschung und leitet dort eine Forschungsgruppe zum Thema monetäre Souveränität. Seine Kernthese ist, dass das Thema Geld untrennbar mit dem Thema Schulden verknüpft ist. Ein Beispiel aus dem Buch: Sie gehen in ein Fahrradgeschäft, kaufen ein Fahrrad und werden damit zum Schuldner des Fahrradverkäufers. Sie bezahlen per EC-Karte von Ihrem Konto, also mit Geld, das die Bank Ihnen schuldet. Die Bank bekommt das Geld wiederum von der Zentralbank. Gleichzeitig wachsen aber die Geldvorräte schneller als die Wirtschaft. Trotzdem mangelt es an Geld für Infrastrukturinvestitionen, für den Kampf gegen den Klimawandel. Mit einer gehörigen Portion Pragmatismus zeigt Sahr konstruktiv auf, wie sich unser Umgang mit Geld und Schulden ändern muss. Auch wenn man nicht alle seiner Forderungen teilen muss, ein konstruktiver Denkanstoß für eine neue Wirtschaft.

Bettina Flitner: Meine Schwester. Kiepenheuer & Witsch (Feb 2022)

Bettina Flitner ist Filmemacherin, Fotografin und Autorin. In ihrem neuen Buch verarbeitet sie den Suizid ihrer Schwester und beschreibt, wie sie gemeinsam mit ihrer Familie und ihrem Umfeld die Trauer meistert. Das Buch ist sehr berührend geschrieben, weil es in der Diktion eine gewisse Kühle hat und ohne erzählerische Girlanden auskommt, in der Beschreibung aber immer wieder das Erlebte nahebringen kann. »Meine Schwester« ist wie eine Fotografie, es bildet einzelne Momente einer Biografie extrem detailliert ab. Manches rutscht immer wieder in Klischees, die man in der eigenen Biografie selbst beobachten kann – insofern entwickelt das Buch eine extreme Nähe zum Leser.

Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit. Hanser (Mär 2022)

Aus meiner Sicht ein echtes Meisterwerk! Der Intellektuelle Karl-Heinz Ott befasst sich mit der Geschichte des Reaktionären. Ein Thema, das uns derzeit an vielen Orten der Gesellschaft begegnet – nicht erst seit den jüngst bekannt gewordenen Umsturzplänen eines Netzwerks von Reichsbürgern. Ott konstatiert einen weltumspannenden Trend zum Reaktionären. Weg von deliberativem Interessenausgleich, hin zu einem antiliberalen hierarchischen Denken: Ein Staat, in dem eine Führungsriege die Regeln festlegt und sie konsequent durchsetzt. Mein politisches Sachbuch des Jahres.

Laurence C. Smith: Weltgeschichte der Flüsse. Siedler (Apr 2022)

Ich habe ein großes Faible für Überblicksdarstellungen in Buchform. Und genau so eine Darstellung liefert Laurence C. Smith, ein Umwelt- und Geowissenschaftler aus den USA, der sich mit Flüssen befasst. So skizziert Smith unter anderem, wie Menschen seit Tausenden von Jahren mit Hochwassern umgehen – wenn wir uns beispielsweise den Umgang mit der Flut im Ahrtal anschauen, könnte man einen zivilisatorischen Rückschritt konstatieren. Ein Beispiel: Die alten Ägypter hatten ein Instrument entwickelt, das Nilometer hieß: eine unterirdische Höhle, in die die Ägypter Wasser aus dem Nil haben fließen lassen und anhand dessen genau berechnen konnten, wie hoch der Wasserstand war, welche Landstriche überschwemmt werden würden, und sogar Steuern festlegen konnten, weil sie wussten, wie die Ernte ausfallen würde. Dieses Wissen scheint aber heute verloren gegangen zu sein – genau deshalb sind solche epochalen Überblickswerke so wertvoll.

Ines Geipel: Schöner Neuer Himmel. Klett-Cotta (Mai 2022)

Am Anfang stand eine große Vision – die kommunistische Idee sollte auch im Weltall Realität werden. Und wer jetzt denkt: „Weltraumforschung in der DDR, die werden ja gerade so eine Seifenkiste zustande gebracht haben“, der liegt fundamental falsch. Ines Geipel beschreibt anhand von historischen Quellen, wie in der DDR in hochgeheimen Laboren ein dem Westen überlegener „Hochleistungsmensch“ entwickelt werden sollte, der im All neue Zivilisationen entdecken sollte: „Die Idee der grenzenlosen Machbarkeit liegt dem Kommunismus genuin zugrunde. Ein Entgrenzungs- oder auch Entwurzelungsprojekt und damit auch das Gegenprogramm zum Europäischen Humanismus. Man wollte den neuen Menschen, den permanenten Helden, der den Weltraum nicht nur erobern, sondern auch dort leben konnte“, so Geipel im Interview in Kursbuch 211. Ein Narrativ, das heutzutage – sei es SpaceX von Elon Musk, China oder die NASA – die Diskurse dominiert. Klare Leseempfehlung für alle, die sich mit DDR-Geschichte und dem Verhältnis von Ost und West befassen.

Fritz Breithaupt: Das narrative Gehirn. Suhrkamp (Jun 2022)

Ich glaube, ich habe bis dato jedes Jahr ein Buch vorgestellt, das sich mit Gehirnforschung befasst. Das Buch von Fritz Breithaupt hat mich deshalb so gepackt, weil ich seit Jahren ein großer Anhänger der Universalienforschung bin, also der Forschung, die sich damit befasst, welche Geschichten in allen Kulturen funktionieren. Also beispielsweise die klassische Heldenreise, die es in so gut wie allen Kulturen gibt. Fritz Breithaupt ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der University of Indiana in Bloomington und hat beispielsweise Wahrnehmungsgeschichten über die Corona-Pandemie verglichen und zeigt anhand dessen narrative Muster auf. Was das Buch wunderbar zeigt, ist, dass wir dazu neigen, die Dominanz eines bestimmten Narrativs zu ernst zu nehmen und dabei die Möglichkeit der Verzweigung verschiedener Narrative nicht mehr in Betracht zu ziehen. Das Buch von Fritz Breithaupt ist ein starkes Plädoyer für Perspektivendifferenz und deshalb eines meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr.

Jonas Pfister: Kritisches Denken. Reclam (Jul 2022)

Mein Lieblingsbuch des Jahres. Klein und gelb, ein klassisches Reclam-Heft. Jonas Pfister lehrt in Innsbruck Praktische Philosophie und hat in unnachahmlich systematischer Art und Weise ein Buch über Kritisches Denken geschrieben. Der Autor führt die Leser*innen extrem pointiert immer wieder aufs Glatteis und führt ihnen so ganz konkret vor Augen, was Kritisches Denken eigentlich ausmacht. En passant erklärt Pfister auch noch, warum wir so anfällig für Verschwörungstheorien sind und wie verschwörungstheoretische Argumente aufgebaut sind. Das Buch kostet 7,80 Euro, Sie können es also auch problemlos mehrmals verschenken. Am besten an Menschen, die denken, sie würden schon alles wissen – nur um dann von Jonas Pfister auf eine kleine Glatteisstrecke geschickt zu werden, auf der jede*r garantiert das ein oder andere Mal ausrutschen wird.

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda. Wagenbach (Jul 2022)

Im Juli geht man auf Reisen – deshalb auch dieses Buch. Stefan Ineichen ist Ökologe und Schriftsteller aus der Schweiz und hat die Geschichte des italienischen Transatlantikdampfers Principessa Mafalda, der insbesondere italienische Auswanderer nach Argentinien gebracht hat, veröffentlicht. Dabei war das Schiff ein Abbild der Gesellschaft im Miniaturformat. Oben prunkvolle Kabinen und ausgelassene Tanzveranstaltungen, unten wohnten diejenigen, die sich die Reise kaum leisten konnten. Anhand von kleinen Geschichten, die immer wieder einfließen, geht der Autor auf eine Reise durch die 20er- und 30er-Jahre – inklusive humorvoller Anekdoten wie Konflikten zwischen Nord- und Süditalienern bei der Menüplanung und der Essensausgabe. Ein Buch für Bibliophile wie mich, mit schönem gelbem Vorsatzpapier, schönem Satzbild und kleinen, schönen Alltagsgeschichten.

Ed Yong: Die erstaunlichen Sinne der Tiere. Kunstmann (Sep 2022)

Ich liebe biologische Wälzer, in denen ich mich nicht sattlesen kann an kleinen Tieren und Pflanzen, die etwas Besonderes können. Schon in der Einleitung zeigt der Wissenschaftsjournalist Ed Yong eindrucks-, aber ebenso humorvoll, wie sich Tiere zwar den physischen Raum teilen, diesen aber höchst unterschiedlich mit ihren Sinnen erleben. Was dann kommt, ist ein Feuerwerk an Geschichten, die faszinieren und begeistern – beispielsweise die Geschichte über den Feuerkäfer, der seine Eier nur in verkohltes Holz legt, damit die Larven weniger Fressfeinde haben. Ideale Lektüre für lange, kalte Wintertage.

Katharina Beck, Philipp Buddemeier: Green Ferry. Murmann (Okt 2022)

»Green Ferry« habe ich gemeinsam mit Katharina Beck, der finanzpolitischen Sprecherin der Grünen, und dem Nachhaltigkeitsexperten Philipp Buddemeier entwickelt. Das Buch beantwortet die Frage, wie wir konsequent-nachhaltig wirtschaften können. Die These der Autor*innen: Wir müssen zwei Dinge grundlegend ändern. Erstens: Prosoziales statt asoziales Handeln. Zweitens: Impact First statt Profit First. Auf die Praxis bezogen heißt das, dass Unternehmen in einer Wirtschaft von morgen zwar Profite machen können, gar sollen, sich aber diesen Grundsätzen verpflichten müssen. Konkret heißt das, Biodiversität fördern, das Klima schützen, soziale Standards beachten und Externalitäten ihres Handelns nicht auf Dritte abzuwälzen. Und dafür zeigen die Autor*innen zahlreiche Beispiele – »Green Ferry« ist also kein naiver Ökotraum, sondern eine Realutopie. Ein Buch für junge Menschen, die an der Zukunft zu verzweifeln drohen.

Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Campus (Nov 2022)

Ich bin ein großer Fan von Jeremy Rifkin. Sein neues Buch hat mich insbesondere wegen einer These mitgerissen: Wir leben seit 500 Jahren in einem Wirtschaftssystem, dessen Fortschritt nur anhand der Effizienz gemessen wird – mit der Folge, dass wir immer größeren Raubbau an der Natur betreiben. Jeremy Rifkin fordert deshalb, dass wir uns an den Grenzen der Natur orientieren und wirtschaftliche Kreisläufe und politische Entscheidungsprozesse auf die regionale und lokale Ebene verlagern. Dieses Konzept nennt er „Peerocracy“, eine Form der Governance, die Widerstandskräfte der regionalen und lokalen Ebene gegen den Klimawandel möglichst gut bündeln soll.

Kursbuch 212: Jetzt wird’s knapp. Kursbuch Kulturstiftung (Dez 2022)

Kleiner Werbeblock. Dieses Kursbuch beschäftigt sich mit dem Knappheitsparadoxon, das schon der Soziologe Niklas Luhmann beschrieb: Je mehr man von einer knappen Ressource erwirbt, um den eigenen Mangel daran aufzulösen, umso weniger ist davon insgesamt vorhanden. Wenn aus der Knappheit also irgendwo Fülle entsteht, führt das anderswo zu noch größerer Knappheit. Einer der außergewöhnlichsten Beiträge stammt vom Zeitforscher Marc Wittmann, der am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene an der Universität Freiburg forscht. Er geht in seinem Beitrag darauf ein, wie sich die Wahrnehmung der Menschen verändert, wenn Zeit knapp wird. Das perfekte Geschenk für die knappe Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr.

Peter Felixberger, Montagsblock /200a

19. Dezember 2022