Montagsblock /200

Die beliebteste Sportart in China ist Tischtennis. Das hat vor allem zwei Vernetzungspunkte: Erstens ist der Tischtennisball schneller, als ihn das Gehirn wahrnimmt. Die meisten Schläge erfolgen jenseits der bewussten Wahrnehmung, völlig aus dem Bauch heraus. Was faszinierend ist, denn nur wer alle Schläge vorher bis zur Besinnungslosigkeit trainiert hat, kann sie offenbar im entscheidenden, zehntelsekundenschnellen Augenblick abrufen. Man muss also lange üben und leiden, bevor man den Olymp einer Meisterschaft erklimmt. Zweitens trainiert man im chinesischen Tischtennis ausschließlich und konsequent nur das, was erfolgreich ist. Überbordende Fülle ist überflüssig. Als etwa der deutsche Tischtennis-Star Timo Boll vor einigen Jahren Chinas TT-Asse reihenweise von der Platte fegte, kopierten die Chinesen die Spielweise Bolls, indem sie Spielerkopien von ihm heranzüchteten. Diese dienten den eigenen Spitzenspielern dann so lange als Sparringspartner, bis die deutsche Gefahr wieder gebannt war.

Ich habe als Jugendlicher auch Tischtennis gespielt. Mit einigen kleinen, unbedeutenden Meisterschaften. Ganz passabel, würde man sagen. Bis ich feststellen musste, dass es nicht weiter nach oben ging. Erst Jahre später begann ich zu verstehen, dass ich erstens weder besinnungslos trainieren noch zweitens gnadenlos erfolgsorientiert leben wollte. Ich beendete meine kleine Karriere und vergaß diese Sportart – bis auf die Rundläufe mit den Kindern im Urlaub oder holprigen TV-Übertragungen auf Piratensendern abseits des Mainstreams. Seit aber das weltweite China-Dechiffrierspiel von allen möglichen Nicht-, Halb- und Vollexpert*innen intensiver betrieben wird, spüre ich wieder Reaktionsfreude: Was haben Tischtennis und Wirtschaft in China gemeinsam? Ich vermute, erstens sind oben erwähnte Ausdauer, Unermüdlichkeit und ständige Anstrengung unheimlich tief im chinesischen Bildungs- und Arbeitsethos verankert. Die Kinder in China besuchen beispielsweise die Schule durchschnittlich an über 250 Tagen im Jahr, im Gegensatz zu 180 Schultagen in Amerika oder 190 in Bayern. Und sie beginnen mit fünf Jahren, den Ball übers Netz zu schlagen, teilweise noch nicht einmal über die Tischkante blicken könnend.

Harte Arbeit, sogar unter den schlimmsten Bedingungen, wird zweitens als erstrebenswertes Ideal angesehen: Das große Vorbild ist immer noch der legendäre Mao, der es schaffte, sich auf einen 18-monatigen Langen Marsch durch das China seiner Zeit zu begeben. Der gigantische Trainings- und Arbeitsfleiß ist ein wichtiger Teil der chinesischen Kultur. Und sich den Erfolg bei anderen abzuschauen ist keineswegs abschätzig. Kein Wunder, dass die Chinesen seit 20 Jahren alles, was erfolgreich ist, kopieren – von der Getränkedose und Europalette über Software bis hin zum Sportwagen. Das Imitieren jedweden Erfolgs ist keineswegs verpönt, sondern eher Ausdruck höchster Bauernschläue. Arglist ist die höchste List! Stellt sich die europäischste aller deutschen Fragen: Ist der Chinese nur ein äußerst fleißiger Phänotyp eines Chinesen, der gnadenlos jede Chance zum persönlichen Erfolg wahrnimmt? Sich allen anderen überlegen wähnend?

Der kalifornische Marketing-Professor John L. Graham relativiert: Über die Hälfte (knapp 500 Millionen Menschen) leben immer noch auf dem Land und arbeiten vielerorts im Reis- und Weizenanbau. Und auch wenn sie früh in die Stadt kommen und dort akkulturiert werden: Sie haben sich ihre ländlichen Werte bewahrt. Was dort zähle, so Graham, sei der Zusammenhalt in Gemeinde und Familie, Individualismus sei nach wie vor verpönt. Weshalb es auch nicht überraschend ist, dass in China die so genannten guten Beziehungen unabdingbar sind, will man ins Geschäft kommen. Gute Beziehungen aber müssen reifen. Vertrauen und Harmonie erwirbt man sich nicht durch ein einzelnes Gespräch. Vor einem Geschäftsabschluss liegt immer eine lange Strecke des persönlichen Kennenlernens. Jede Form von amerikanischer oder europäischer Business-Ungeduld ist nicht sehr erfolgversprechend.

Die Folge, so Graham: Ausländern werde bis heute grundsätzlich eher zurückhaltend begegnet. Und auf die systemische Ebene übersetzt: Das riesige Misstrauen gegen den globalen Zugriff bei gleichzeitiger rücksichtsloser Ausnutzung jedweder Chance, von dieser Globalisierung zu profitieren, sei das bewährte Erfolgsrezept, das den westlichen Zugriff erschwert bis verhindert. Die Leitidee lautet: Intelligent verteidigen, um dann im richtigen Augenblick offensiv zuzuschlagen. Je nachdem, welche Variante gerade den schnellen Vorteil bringt.

Unter den Tischtennis-Spielern genießen in China übrigens bis heute jene den größten Respekt, die beides können: verteidigen und angreifen. Die spontane, situative Veränderung im Spiel, das Hin und Her zwischen defensiver Ausweglosigkeit und im nächsten Moment grandioser Angriffsbewegung fasziniert die Massen wie in keinem anderen Land. Kein Wunder, dass in China auch ein richtiger Badminton-Boom herrscht. Dort kann man dieses Wechselspiel in etwas langsamerer, medienfreundlicherer Form erleben.

Wenn ich heute noch ab und zu Tischtennis spiele, wundere ich mich bisweilen, wie manche Bewegungsabläufe nicht abhandengekommen sind: Vorhandkontern, Topspin, Rückhandschupfen. Sie sind in mir steckengeblieben. Manchmal träume ich noch von Spielmomenten, die jeder Tischtennis-Spieler kennt. Ein Schlag gelingt, den man vorher noch nie gekonnt hat. Wie aus dem Nichts. Im Fluge zieht er vorbei. Wie gerne würde man ihn jetzt einfangen? Vergebens. Der große Basketball-Altmeister Holger Geschwindner hat das ewige Von-vorne-anfangen einmal in der wunderbaren Aussage zusammengefasst: „Wir werden alles geben, was wir noch nie gekonnt haben.“ Vielleicht fange ich doch wieder zu trainieren an? Und dann im Endspiel einer Ü80-Meisterschaft irgendwo in einem Vorort von Peking, 9:9 im Entscheidungssatz, jetzt wird’s knapp … Werbeeinblendung Kursbuch 212.

Peter Felixberger, Montagsblock /200

12. Dezember 2022

+++Veranstaltungshinweis+++

Einmal im Jahr macht sich unser Herausgeber Peter Felixberger auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen – und stellt die besten Sachbücher des Jahres vor. Live und in Farbe auf YouTube, am 12. Dezember um 19:30: youtu.be/XmE-ID6K9-0 

Link zur Präsenzveranstaltung in der VHS Ismaning: https://www.vhs-nord.de/index.php?id=92&kathaupt=11&knr=W1029K