Montagsblock /201

Lange habe ich mir vorgenommen, nichts zur Revolution im Iran zu sagen. Es gab einige Erwartungen von Freunden und Bekannten, auch von Medien, natürlich wegen meines nicht-westfälischen Nachnamens. Auch wenn mein Vater aus dem Iran stammte, ich als 9-12-Jähriger drei Jahre in Teheran gelebt habe, ich die Sprache als Kind gelernt habe, weiß ich auch nicht mehr darüber als die meisten Beobachter von hier. Aber es ist schon frappierend, wie sehr sich manche Bilder jetzt mit denen verbinden, die ich selbst als Erinnerungen im Kopf habe. Wohl wissend, dass Erinnerungen nicht in der erinnerten Vergangenheit, sondern in der erinnernden Gegenwart stattfinden, fügt sich gerade der religiöse Rigorismus dieser Theokraten ziemlich genau in meine Erinnerung ein – und das war noch zu Zeiten des vorherigen Regimes. Die Dinge waren auch damals schon virulent.

Jedenfalls soll dieser mein letzter Montagsblock des Jahres an die dortige Revolution erinnern, von der man hoffen muss, dass sie nicht vollständig niedergeschlagen wird. Die vielleicht beeindruckendste Frau, die ich je gesehen habe, ist wohl die Journalistin Masih Alinejad (auf Twitter @AlinejadMasih), die als Exiliranerin von den USA aus zu einem Symbol für die Proteste geworden ist und den Protest seit Jahren am Kopftuchzwang für die Frauen festmacht und deren Leben von radikalen Schergen des Regimes mehrfach bedroht wurde. Sie lebt in den USA unter Polizeischutz. Sie sagte in einem Interview: „Der Kopftuchzwang ist wie die Berliner Mauer. Wenn man sie einreißt, bleibt nichts mehr vom Regime übrig.“

Der Kitt des Regimes ist die Angst – nicht nur die Angst, die diese Theokraten mit ihrer Gewalt, mit Folter, Vergewaltigungen, Verachtung vor allem von Frauen und Hinrichtungen verbreiten. Es ist vielmehr ihre eigene Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, die Kontrolle über die unwürdigen religiösen Gebote und damit über eine Gesellschaft, die den letzten Glauben an diese islamische Ideologie längst verloren zu haben scheint. Wenn der letzte Funken an ideologischer Gefolgschaft verschwunden ist, bleibt nurmehr die Gewalt als das einzige Mittel, der eigenen Angst Herr zu werden.

Die Internationale der Autokraten scheint von der Angst vor Kontrollverlust und damit vor der prinzipiellen Offenheit komplexer Prozesse geprägt zu sein. Es ist ein Fehler, Modernität für eine normative Kategorie oder gar für einen Wert zu halten – schon deshalb, weil auch der religiöse Fundamentalismus eine genuin moderne Erscheinung ist. Was Modernität ausmacht, ist die Erfahrung von Kontingenz und die Unmöglichkeit der Kontrolle, die Erfahrung von unvermeidlichem Pluralismus und damit einer Form von Freiheit – und die Gegenreaktionen sind explizite und explizit moderne Gegenreaktionen. Deshalb ist das Grundmotiv der Theokraten dort pure und nackte Angst, nichts weiter, und damit auch religiös auf einem kulturellen Level, der auf äußerliches Handeln (Wohlverhalten, Unterwerfung) und nicht auf innerliches Erleben (Glaube, Individualität) setzt – denn das ist womöglich die Formel, mit der die Wildheit des Religiösen eingefangen werden kann, wie wir aus der eigenen Religionsgeschichte wissen.

Deshalb setzt Masih Alinejad auf das Kopftuch, das weg muss, wie die Berliner Mauer. Ich weiß, dass das Kopftuch sehr unterschiedliche Bedeutungen haben kann, aber ich gebe zu, dass ich seit den Protesten Kopftücher auch in unseren Regionen nur schwer ertragen kann – und noch weniger, dass es sogar Salonkritiker/innen gibt, die in diesem Gefühl womöglich einen kulturimperialistischen Impetus sehen. Aber das ist wohl nur Ausdruck von deren Angst, mit der Offenheit von Situationen umzugehen.

Vielleicht wäre es besser gewesen, bei meinem Vorhaben zu bleiben, nichts dazu zu sagen. Aber wie kann man nichts dazu sagen? Und wie könnte man verschweigen, dass die Teheraner Theokraten die besten Freunde Putins sind? Die rechtsradikale Begründung des russischen Antimodernismus durch Alexander Dugin übrigens setzt als weltgesellschaftlichen Partner explizit auf den (vor allem iranischen) Islam – als einer Form, des Kontrollüberschusses und wohl auch der Kontrolle der eigenen Angst. Hoffen wir, dass es ihnen nichts nützt.

Allen ein gesegnetes Weihnachtsfest an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag.

Armin Nassehi, Montagsblock /201

26. Dezember 2022