Montagsblock /194

In vier Wochen erscheint das neue Kursbuch. Sein Titel: „Jetzt wird’s knapp“. Jetzt, wo alle möglichen Bremsen und Fallschirme die explorierenden Preise und knapper werdenden Ressourcen regulieren sollen. In der Tat, vieles wird weniger: Erdgaslieferungen, Stromkapazitäten oder das Wirtschaftswachstum. Einiges aber auch mehr: etwa Preise, Löhne und Inflation. Meine FLXX-Kolumne im neuen Kursbuch beschäftigt sich deshalb mit dem wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhang von Markt und Verknappung. Es ist eine kleine historische Konfliktlinie des Marktkapitalismus im Verhältnis zu staatlicher Regulierung und Eingriffe. Der Zusammenhang zwischen selbstregulativen Marktfantasien und protektionistisch-regulierter Marktwirtschaft oder anders gesagt: der Widerspruch der Eigenlogik von Politik und Wirtschaft ist bis heute umstritten.

  

Eine kurze Geschichte marktwirtschaftlicher Verknappung

Ein Ausschnitt aus der FLXX-Kolumne im neuen Kursbuch 212 (ET: 2.12.2022)

»Ein Markt ist ein Mechanismus, mit dessen Hilfe Käufer und Verkäufer miteinander in Beziehung treten, um Preis und Menge einer Ware oder Dienstleistung zu ermitteln.«[1] In dieser berühmten Definition von Paul Samuelson wird der Markt als volkswirtschaftlicher Mechanismus beschrieben, durch den der Wert einer Ware mit einer ideal ermittelten Geldmenge korrespondiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Markt mit einem bestimmten Ort verknüpft ist. Entscheidend ist, dass ein Markt immer ohne Zwang oder zentrale Lenkung agieren kann, dass die Akteure, ohne gestört zu werden, Waren, Dienstleistungen und Geld zum gegenseitigen Nutzen austauschen können. Im Idealfall entsteht dabei »ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage«[2]. Der Markt ermittelt einen Preis, der die Wünsche von Käufer und Verkäufer gleichermaßen regelt.

Dieser Gleichgewichtspreis sorgt dafür, dass einerseits nicht zu viel produziert und andererseits nicht zu wenig konsumiert wird, Angebot und Nachfrage werden in Balance gehalten. Konsumenten und Produzenten, also Haushalte und Unternehmen, interagieren ausschließlich zur eigenen Bedürfnisbefriedigung, während keiner von beiden den Markt regieren kann.

Theoretisch!

Anschlusskommunikativ funktionieren Märkte im Idealfall nach einer einfachen Logik: Die Konsumenten bilden Kaufkraft, die Produzenten reagieren mit neuen Produkt- und Technologieofferten. Mit je eigener Antriebslogik trifft man sich auf nicht regulierten Märkten, um Leistungen auszutauschen. Oder wie Samuelson aus volkswirtschaftlicher Perspektive resümiert: »In einer idealen Marktwirtschaft werden alle Güter und Dienstleistungen freiwillig zum Marktpreis gegen Geld getauscht. Mit einem solchen System lässt sich der größte Nutzen aus den Ressourcen einer Gesellschaft ziehen, ohne dass der Staat eingreift.«[3] Wichtig ist, dass sich die Warenproduktion immer nach der Kaufkraft richtet, der Markt verschafft allen gemäß ihrer Kaufkraft das je eigene Set an gewünschten Gütern, und nicht nach der Dringlichkeit ihrer Bedürfnisse. »So kann es dazu kommen, dass die Katze der Reichen genau die Milch trinkt, die für die Gesundheit der Kinder der Armen so dringend nötig wäre.«[4] Das Problem besteht also darin, dass Märkte per se nicht als Gerechtigkeitsmechanismus angelegt sind. Im Gegenteil kann Marktwirtschaft sogar in höchstem Maße sozial ungerecht sein und auf Verknappung basieren, was Einkommen, Kauf- und Konsumkraft betrifft.

Die marktwirtschaftliche Semantik beruht seit Beginn der industriellen Moderne auf der Zielsetzung, von allem mehr bereitzustellen, um die Kaufkraft zu stimulieren. Anders ausgedrückt ist Wirtschaftswachstum ein kollektives Versprechen an alle Marktteilnehmer, jede Form von Kaufkraftwillen zu befriedigen. Denn jede Unsicherheit beeinträchtigt das Vertrauen in gesellschaftliche Stabilität. So lässt sich die Geschichte der westlichen Marktökonomie auch als Aufstieg und Niedergang selbstregulativer Wachstumsmärkte mit daran anschließender staatlicher Regulationsarchitektur formulieren.

 

Die Idee dieses selbstregulativen Marktes

… hatte ihre Blüte in Westeuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Motor war Großbritannien als erste große Industrienation der Geschichte. Es war der Beginn von Weltmärkten mit freiem Handel. Mit Einführung des Goldstandards (1865: Frankreich, Schweiz, Belgien und Italien; 1871: Deutschland; 1873: Niederlande und Skandinavien) wurde überdies auch die währungspolitische Grundlage geschaffen, um mit stabilen Wechselkursen ein Laissez-faire-System zu etablieren. »Das zwischen 1821 und 1914 in seinem Wert unveränderliche britische Pfund Sterling war praktisch gleichwertig mit dem Gold, wodurch es zur internationalen Währung avancieren konnte.«[5] Darüber hinaus fanden weitreichende logistischeVernetzungen im Schienen- und Wasserstraßenverkehr statt, ebenso in der telegra- fischen Kommunikation.

Der selbstregulative westeuropäische Markt zog ein immenses wirtschaftliches Wachstum und eine Steigerung des Wohlstandes nach sich. »In den Ländern Westeuropas erhöhte sich das Einkommensniveau im Verlauf des 19. Jahrhunderts um das Dreifache.«[6] Das Wirtschaftswachstum als Kompensator ungebremsten Kaufkraftwillens wiederum löste eine ungehemmte Expansion nach neuen Märkten jenseits Europas aus. Kolonialismus und Imperialismus erweiterten brutal und ungezügelt die Aktionsräume selbstregulativer Märkte, lösten aber in den Kolonien unmittelbar Blutzoll und grausame Unterdrückung aus. »Der Besitz eines kolonialen Imperiums wurde zu einer regelrechten Obsession; für eine Großmacht waren Kolonien einfach eine Frage von Status und Prestige.«[7]

Aber auch innerhalb Europas trat eine Kluft zutage. Süd- und Osteuropa konnten vom kapitalistischen Markt-, Imperialismus- und Wachstumshunger nicht profitieren. In den meisten dieser Länder ging die wirtschaftliche Leistung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar kontinuierlich zurück. In der Folge zog das selbstregulative Marktsystem in Europa neben ökonomischer Prosperität in Westeuropa und kolonialer Zerstörung auch wirtschaftliche Hierarchien und Ungleichheiten in der Peripherie in Süd- und Osteuropa nach sich. Das führte zu einer innereuropäischen Klassenbildung. Hinzu kam seit den 1870er-Jahren wirtschaftliche Konkurrenz aus Übersee. In der Konsequenz begann sich fortan die freie Markt- und Handelsidee sukzessiv aufzulösen. Überall wurden protektionistische Schranken und Zölle aufgebaut.

»Der Erste Weltkrieg verstärkte den Protektionismus.«[8] Das Ideal einer freien Marktwirtschaft löste sich schnell auf. »Der Einfluss des Staates erreichte … eine neue Qualität. Alle kriegführenden und auch die meisten der neutralen Länder führten Rohstoff- und Lebensmittelkontrollen ein … Im Zusammenhang damit wurden auch Rüstungsgüter und -produzenten, oftmals ebenso der Transportsektor und gelegentlich die Landwirtschaft kontrolliert und reguliert.«[9] Die Kriegswirtschaft etwa in Großbritannien war staatsfinanziert. In Deutschland wiederum wurde die Wirtschaft völlig militarisiert. Es kam dort zur ersten großen Planwirtschaft der industriellen Neuzeit. Der Staat wurde zur Lenkungs- und Kontrollmacht sowie zum größten Produzenten von Gütern.

Parallel wuchs auch in der deutschen Sozialdemokratie eine neue Leitidee: die »organisierte Wirtschaft«.[10] Der sozialdemokratische Siegeszug innerhalb Europas war bemerkenswert: 1919 erreichten die Sozialdemokraten in Deutschland 39 Prozent, in Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Norwegen, Schweden und Großbritannien circa ein Drittel aller Wählerstimmen. Carr kommt sogar zu dem Ergebnis, dass die Planwirtschaft in Europa nach 1919 »fast in jedem Staat zur gängigen Praxis«[11] wurde.

Lesen Sie ab 2. Dezember im Kursbuch 212 weiter über den wachsenden Staatsdirigismus bis hin zur Groteske im Nationalsozialismus, der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, Konrad Adenauers Schachzüge und über die moderne, gerechtigkeitstheoretische Versöhnung zwischen selbstregulativer Marktidee und gelenkter, organisierter Marktwirtschaft.

Peter Felixberger, Montagsblock/ 194

31. Oktober 2022


[1] Samuelson, Paul A.; Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre. Wien 1998, S. 51

[2] ebd.

[3] ebd., S. 59

[4] ebd., S. 62

[5] Berend, Ivan T.: Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert. Göttingen 2007, S. 33

[6] ebd., S. 34

[7] ebd., S. 35

[8] ebd., S. 44

[9] Fischer,Wolfram: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 6. Stuttgart 1987, S. 171

[10] vgl. Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus. Frankfurt am Main 1968

[11] Carr,Edward Hallett: TheTwentyYears Crisis,1919–1939. An introduction to the study of international relations. Basingstoke 2001, S. 51