Montagsblock /193

Es gibt kaum etwas, was so schwierig auszumisten ist, wie ein Bücherregal. Das ist eine Erfahrung, die meine Kollegen und ich aktuell gezwungenermaßen machen, denn wir ziehen um. Und in einer modernen Bürolandschaft spielen Bücher nurmehr eine untergeordnete Rolle. Sie sind so etwas wie der Ballast des modernen Arbeitnehmers, den man als Bürogestalter gerne loswerden würde, denn zum Bücherlesen fehlt während der Arbeit ohnehin die Zeit, und je weniger Kram der Arbeitnehmer mitbringt, desto einfacher kann er hierhin oder dorthin gesetzt werden – wo das agile Arbeitsleben ihn gerne hätte.

Natürlich sind wir bei der Zeitung, für die ich arbeite, von solchen modegetriebenen Management-Überlegungen relativ unbeeinflusst. Unsere Bücherregale werden trotzdem künftig sehr viel kleiner ausfallen als bisher, so hört man zumindest. Daher türmen sich derzeit die aus- und umsortierten Bücherstapel auf den Fluren, und manchmal hat man den Eindruck, es sei eher ein großer Bücheraustausch zwischen den Kollegen im Gange als der Versuch einer kollektiven Bücherreduktion. In der vergangenen Woche habe ich immer wieder vor meinen Regalreihen gestanden, zur strengen Prüfung wild entschlossen, um dann doch die herausgenommenen Bücher wieder an anderer Stelle einzusortieren.

Vor knapp sechs Jahren, als ich nach meiner Postdoczeit meine erste unbefristete Stelle angetreten hatte, war das mein persönliches Zeichen des Angekommen-Seins gewesen: Endlich wieder alle Bücher an einem Ort versammelt zu haben. All die schönen Physik-Lehrbücher, die ich vor jeder Prüfung so gewissenhaft durchgearbeitet hatte. Die Philosophieklassiker, die ich mir damals ehrfurchtsvoll besorgt hatte. Die Bücher, die ich mir dann von meinem Bücherstipendium gekauft hatte, 80 Euro im Monat, was für ein Luxus! Die lange Reihe englischsprachiger Bücher aus der Wissenschaftsphilosophie, die ich nach einem kurzen Forschungsaufenthalt in Pasadena geschenkt bekommen habe, als noch Geld im Forschungsprogramm übrig war. All diese Bücher, die ich in den Jahren vorher an verschiedenen Orten gelagert hatte, weil sie zu schwer waren, mir auf meine Tour von einer befristeten Forschungsstelle zur nächsten zur folgen. Jetzt wieder beisammen in einem großen Regal.

Schon damals war mir aber auch aufgefallen – zumindest in meinem persönlichen Forscherumfeld -, dass die Anzahl von Büchern in den Büros meiner jeweiligen Kollegen im Laufe meiner Karriere abnahm. Selbst die Professoren hatten schließlich nicht mehr die großen Regalwände, die ich noch von den Lehrkräften zu Beginn meines Studiums kannte. Mir kam das damals so vor, als könne man an der Größe der Bibliothek die Bereitschaft zu interdisziplinärem Denken ablesen. Denn als spezialisierter Naturwissenschaftler braucht man tatsächlich nicht viele Bücher für die tägliche Arbeit. Die aktuelle Forschung wird schließlich in Form von Zeitschriftenartikeln veröffentlicht, und die Anzahl der für die eigene Forschung relevanten Lehrbücher ist meist überschaubar. Ob diese These stimmt, weiß ich nicht. Aber die Beobachtung, dass es bei meinem neuen Arbeitgeber Unmengen von Büchern gab und gibt – in den Büros, auf den Gängen, auf den Tischen –  spielte sicherlich auch eine Rolle bei der Entscheidung, nicht weiter selbst an Sternen zu forschen sondern nach Frankfurt zu gehen, um dort mit dem hauptberuflichen Schreiben zu beginnen.

Mit diesem Bekenntnis zum gedruckten Buch oute ich mich natürlich als hochgradig altmodisch, und ich habe auch gar nichts gegen E-books, schon allein wegen der Möglichkeit, dort die Suchfunktion zu nutzen. Doch dieser Vorteil wird kompensiert durch die merkwürdig verschwommene Ontologie der E-books, die zumindest für mich in ihrer Existenz nie die Konturschärfe erhalten wie ihre Entsprechungen aus Papier. Sie bleiben hinsichtlich ihres Umfangs und auch ihres Inhalts vergleichsweise schwerer zu fassen, auch wenn ihre Cover übersichtlich in der Digital-Bibliothek aufgereiht sind.

Kürzlich gab es eine Studie, in der analoge Meetings mit digitalen hinsichtlich der dabei jeweils entwickelten Kreativität verglichen wurden. Gruppen von Ingenieuren sollten dabei für bestimmte Probleme neue Ansätze finden. Die Ergebnisse legten nahe, dass die analogen Sessions tatsächlich die kreativeren waren. Als Grund für diesen Effekt mutmaßten die Wissenschaftler, dass die Teilnehmer in analogen Kontexten viel mehr Reize aus ihrer Umgebung aufnahmen, statt nur starr auf den Bildschirm zu schauen, und dadurch in ihren Gedanken kreativ in andere Richtungen geleitet wurden. Wenn das tatsächlich so ist, wäre das für mich ein weiteres Argument dafür, dass alle Büros mit möglichst vielen Büchern aus möglichst vielen verschiedenen Gebieten ausgestattet sein sollten. Es ist mir ein Rätsel, wie das im modernen Bürodesign so hartnäckig ignoriert werden kann. Wie kann man auf die Idee kommen, dass merkwürdig geformte Sitzmöbel oder lustige Lampen mehr Kreativität zutage fördern können, als große, gut gefüllte Bücherregale? In mir hat sich zumindest mittlerweile der Vorsatz formiert, mit dem Aussortieren jetzt wieder aufzuhören und lieber im neuen Büro um jeden Zentimeter Regalbreite zu kämpfen.

Sibylle Anderl, Montagsblock /193

24. Oktober 2022