Ich bin schon seit längerer Zeit ein großer Verehrer von Caroline Shaw. Shaw, geboren 1982, ist eine US-amerikanische Komponistin und Geigerin. Ihr sicher bekanntestes Werk ist die mit dem Pulitzer Prize of Music ausgezeichnete Partita for 8 Voices aus dem Jahre 2013, und auch ihr Album Orange mit dem Attaqua Quartett von 2019 war sehr erfolgreich. Nun ist vor wenigen Tagen das Album The Wheel gemeinsam mit dem Ensemble I Giardini erschienen (alpha classics 2022). Das erste Stück auf diesem Album heißt Thousandth Orange, ist etwa 10 Minuten lang und hier zu hören. Es ist nicht nur ein wunderschönes Stück, sondern auch ein nachdenkliches.
Es beginnt mit einer sehr einfachen Folge von vier Klavier-Akkorden, die schon nach wenigen Wiederholungen von drei Streichern, Violine, Bratsche und Cello, kommentiert, ergänzt, erläutert werden, zunächst gestrichen, dann im Pizzicato. Nach einiger Zeit übernehmen die Streicher im Pizzicato die vier Akkorde, und das Klavier kommentiert, bis auch in den Streichern Variationen auftauchen, die gemeinsam mit dem Klavier dieselbe Figur immer wieder aufnehmen, verfremden und doch gleich bleiben und in Variationen ineinander verschränkt werden, ohne ihren Charakter zu verlieren. Es ist nicht so mathematisch exakt wie eine Bach-Fuge, aber es spielt damit, die Grundform in einer Selbstähnlichkeit zu erhalten, die die Ausgangsakkorde immer wieder in verschiedenen Modulationen erhält.
Das Stück behält die gesamten zehn Minuten seinen Grundrhythmus bei, stellt seriell eine Form der Ruhe und Kontinuität har und moderiert damit eine Veränderung, die nur deshalb möglich ist, weil sich die musikalischen Figuren gleichbleiben. Und immer wieder zu sich selbst zurückkehren.
Ich habe das oben Selbstähnlichkeit genannt. Das Faszinierende an dieser kleinen Komposition ist, dass sie wie eine Parabel darauf wirkt, wie sich die Trägheit der Form, die Imitation der vorherigen Figuren und die Erwartbarkeit der nächsten Sequenz als Voraussetzung für jene Variationen darstellt, von denen man nur im ersten Moment denkt, dass sie die wesentlichen Themen des Stückes sind, dabei ist es doch die grundlegende Bewegung – anders als in einem basso continuo nicht nur als Geländer für das Eigentliche, sondern eine der Variation inhärente Form.
Selbstähnlichkeit ist ein Begriff aus der fraktalen Geometrie und meint, dass sich größere und kleinere Strukturen eines Systems prinzipiell ähneln und unabhängig von Vergrößerung oder Detailansicht grundlegende sich selbst ähnliche Strukturen wiederzufinden sind. Dieser Begriff wird hier natürlich nicht mathematisch exakt gebraucht, sondern metaphorisch – aber als Metapher dafür, dass die Variation, die überraschende Figur, die Bewegung und die Abweichung all das nur sein können, weil sie sich selbstähnlich sind bzw. auf eine selbstähnliche Form verweisen. Dass die großen semantischen Wünsche nach einer Veränderung der Welt und nach einer Lösung von Problemen, nach der Überwindung von Krisen und der disruptiven Wende zum Besseren sich gerade an der Selbstähnlichkeit und Trägheit des Bestehenden brechen, bezeichnet gewissermaßen die Tragik aller Zeitenwenden und aller Versuche, die Dinge in andere Bahnen zu lenken.
Die Trägheit der Welt und ihre Stabilität, ihre Strukturiertheit und ihre ereignishafte Form der Iteration, der Wiederholung verweist auf den zeitlichen Charakter des Problems – deshalb ist die Musik vielleicht diejenige Kunstform, mit der sich dies am ehesten darstellen lässt: Musik besteht aus zeitlichen Ereignissen, und das Hören der Musik als Eigenleistung des hörenden Bewusstseins verbindet die sich verändernden Sequenzen in der Zeit zu einer Gestalt. Sie spielt mit der Wiederholung und Iteration – und kann das andere, das sich selbst Unähnliche, die Abweichung, die Veränderung, ästhetisch in Kontrast zu jener Iteration bringen. Musik besteht gewissermaßen aus dieser Dialektik von Struktur und Prozess, von Abweichung und Wiederholung, von dynamischer Stabilität, letztlich aus deiner Ordnung, die in jedem Ereignis neu hergestellt werden muss und doch ganz anders sein könnte.
Genau das geschieht in Thousandth Orange – übrigens ein Titel, der selbst auf so etwas wie fraktale Formen verweist, denn dieser Titel kann sowohl die tausendste als auch eine tausendstel Orange meinen. Darauf kommt es aber gerade nicht an, weil sich die Dinge selbstähnlich sind – und doch oder gerade deswegen variieren können. Das ist der Trost in der Tragik des Wiederholungszwangs aller Struktur. Diese Musik bringt das in einer sehr berührenden Weise – nein, nicht auf den Begriff, aber zum Begreifen.
Armin Nassehi, Montagsblock /195
07. November 2022