Montagsblock /166

Diesmal erlaube ich mir einen sehr persönlichen Montagsblock. Ich hatte am vergangenen Freitag, eine Woche vor Karfreitag, die Ehre, in der Allerheiligen-Hofkirche in München während des Passionskonzertes des Jungen Ensembles der bayerischen Staatsoper zwei kleine Interventionen zur Passion vorzutragen. Die jungen Musikerinnen und Musiker präsentierten Stücke u.a. von Henry Purcell, Johann Kuhnau und Antonio Vivaldi. Mein Lieblingsstück, Auszüge aus dem „Stabat Mater“ von Giovanni Battista Pergolesi, kam wegen einer Corona-Erkrankung der Solistin leider nicht zur Aufführung.

Abgesprochen war, dass ich etwas über Palliativmedizin erzähle, über Palliative Care, über die medizinische und pflegerische Betreuung von sterbenden Patienten. Das ist ein Forschungsthema, an dem ich seit vielen Jahren vor allem gemeinsam mit Irmhild Saake arbeite. Geplant war, in der ersten Intervention etwas über die Geschichte der Palliativmedizin zu sagen, in der zweiten etwas aus der eigenen Forschung über die gegenwärtige Praxis der Betreuung und die Kommunikationsformen. Bei der Vorbereitung am Nachmittag vor dem Konzertabend wollte es mir aber nicht gelingen, dies so vorzubereiten. Es war der Tag, an dem die schrecklichen Meldungen vom Bahnhof von Kramatorsk bekannt wurden, auf dem eine russische Splitterbombe viele Menschen verletzt und getötet, zerfetzt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt hat – ohne jeglichen militärischen Sinn, aber mit offensichtlicher verbrecherischer Mordabsicht. An einem solchen Abend kann man nur schwer einen Vortrag über eine Bewegung halten, deren größter Impetus darin besteht, dass jeder Mensch seinen eigenen Tod sterben können soll – durch individuelle Betreuung, durch die Gestaltung der letzten Lebensphase, durch Kommunikation, vielleicht manchmal zu viel Kommunikation. Es gibt darüber viel zu sagen (siehe dazu Montagsblock /61). Aber der grundlegende normative Impetus der Palliativbewegung ist tatsächlich das individuelle Sterben, die Aufrechterhaltung der individuellen Ansprechbarkeit angesichts der Drastik des Endes des Sprechers bei Kontinuität der Sprachgemeinschaft. Es ging auch darum, dem Anlass eines Passionskonzertes angemessen zu sprechen – gewissermaßen etwas über die Bedingungen für Tröstliches angesichts der Drastik des Sterbens zu formulieren.

Ich habe darüber auch gesprochen – dieser Teil betitelt mit „Das betreute Sterben“. Aber das konnte in diesen Zeiten, besonders an diesem Tag so nicht stehen bleiben. Ich habe den zweiten Teil „Der ausgestellte Tod“ genannt und die Bilder von Butcha und die aktuellen von Kramatorsk aufgerufen und daran erinnert, dass das 20. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert ist, in dem die Betreuung von Sterbenden nicht mehr nur als Niederlage einer Hochleistungsmedizin angesehen wird und neue, auch medizinisch gestaltete Formen der Linderung findet. Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert einer unglaublichen Produktion von toten Körpern – im Kolonialismus, in den beiden Weltkriegen, im Holocaust, in den Säuberungen des Stalinismus, in der chinesischen Kulturrevolution, in den ethnischen Säuberungen im Jugoslawien-Krieg, bei ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer – bis hin zu permanenten Kriegen, deren geografische Ferne in der Selektivität unserer Wahrnehmung und Betroffenheit weniger auftauchen.

So unterschiedlich, v.a. unterschiedlich „industrialisiert“ diese Totenproduktion war – die Vernichtungsmaschine der Nazis war sicher der Höhepunkt einer rationalen, industriellen, organisatorisch „modern“ geplanten Tötungsmaschinerie –, so sehr haben all diese Formen etwas gemeinsam. In diesen Exzessen starb niemand seinen eigenen Tod – weder im Hinblick auf sein eigenes individuelles Leben, noch waren diese Opfer des massenhaften Mordens je selbst als Individuen gemeint, sondern Exemplare gattungsförmiger Gruppen – ethnische, nationale und religiöse Feinde, Klassenfeinde, Rassenfeinde – und wie die Schrecklichkeiten alle formuliert wurden. Nicht einmal als Tote blieben sie übrig – und wenn man eine Gestalt dieser Toten sich vorzustellen versucht, versagt man schon vor der schieren Masse – ein Versuch der Wiederherstellung wenigstens einer Spur von Individualität findet sich auf dem Twitter-Account „Auschwitz Memorial“ (@AuschwitzMuseum), der täglich Fotos der Ermordeten an ihrem jeweiligen Geburtstag zeigt. Es ist ein ästhetischer Hinweis auf die Negierung des je eigenen Todes.

Gewalt, so schreibt Jan-Philipp Reemtsma in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt“, ist meist eine triadische Beziehung: die zwischen dem Aggressor und dem Opfer, drittens aber auch im Verhältnis zu Dritten, denen die Möglichkeit der Gewalt, die Möglichkeit der Negierung der dünnen zivilisatorischen Eisdecke vorgeführt wird. All diese Produktion toter Körper ist auch an Dritte gerichtet, denen die eigene Macht vorgeführt wird. Jedes Todesopfer zeigt, dass der Aggressor kann, wenn er will (vielleicht sind die Nazis deshalb der Höhepunkt des Zivilisationsbruches, weil sie mit ihren Morden nicht nur Macht demonstrierten, sondern sogar einen expliziten Plan hatten, ihre Gegner als Gattung zu vernichten – das geht noch weit über die Machtdemonstration hinaus).

Auch die auf den Straßen von Butcha und auf dem Bahnsteig von Kramatorsk liegenden toten Körper sind vor allem ausgestellte Tote. Die toten Körper und die dazugehörigen Individualitäten spielen für die russischen Barbaren keine Rolle. Sie sind ihnen egal. Sie sind nur Exemplare. Deshalb ist es viel wirksamer, Zivilisten zu töten statt Kombattanten, deren Tötung zum Spiel dazugehört. Tote Körper von Zivilisten sind ein Kommunikationsmedium. Sie zeigen vor: Wir können es, und Ihr werdet nicht dagegen vorgehen, weil Ihr daraus schließen könnt, was wir noch tun, wenn Ihr uns angreift. Es sind Barbaren – aber sie haben zumindest so viel Verstand und Ressourcen, dass sie Atomwaffen bedienen können. Sie sind gute Kommunikationsexperten. Sie verstehen die Sprache der Gewalt. Und die Sprache der Gewalt ist hier die Mitteilung an Dritte, an uns. Die toten Körper aber sterben keinen individuellen Tod, sie sterben nicht einmal. Sie werden paradoxerweise ausgelöscht – um vorgezeigt werden zu können.

Vielleicht muss man die Drastik in dieser Form ausdrücken, um ihren kommunikativen und ihren sozialen Sinn zu verstehen. Und vielleicht ist es die einzige Form in diesen Zeiten, in einem Passionskonzert über das Sterben und den Tod zu sprechen. Die Passion erzählt die Geschichte eines Todes, der überwunden werden soll, zumindest ist das das Versprechen. Das setzt durchaus eine individuelle Form voraus. Der Karfreitag lässt sich nur zusammen mit dem Ostersonntag denken. Die Passion der ausgestellten Toten in der Ukraine freilich kennt nur den Karfreitag. Wie soll man sich hier einen tröstenden Ostersonntag vorstellen? Das wäre nur möglich, wenn sie als Individuen gestorben werden, nicht als Gattungsexemplare. Und geradezu unerträglich wird das Ganze, wenn man mitsieht, wie sehr wir mit unserem Ressourcenverbrauch, mit selbstgewählter Abhängigkeit von Energielieferungen und durch die Blindheit für die Konsequenzen an der jetzigen Gemengelage, zumindest an unserer Unfähigkeit, angemessen zu reagieren, beteiligt sind.

Mein Vortrag endete mit diesem Gedanken – vorher habe ich noch versucht zu zeigen, dass die Symbolik des Kreuzes auch eine Symbolik des ausgestellten Todes ist. Diese Hinrichtungsart hat sich durchaus ganz im Sinne von Reemtsma auch auf Dritte bezogen – die Delinquenten hingen noch lange am Kreuz und konnten besichtigt werden. Die christliche Idee der Passion versuchte, zumindest dem einen eine Identität zu geben – was dann am Ostersonntag erfüllt werden soll. Löst man es von der religiösen Intention, ist es zumindest der Hinweis darauf, dass der individuellen Vernichtung eine unverwechselbare Individualität vorausgeht.

Nach diesem Vortrag war die Betroffenheit in der Allerheiligen-Hofkirche – übrigens kein sakraler Raum mehr, sondern die zum Konzert- und Veranstaltungssaal umgebaute, ehemalige katholische Hofkirche der Wittelsbacher in der königlichen Residenz – im Publikum sehr deutlich zu spüren. Und ich muss gestehen, bei mir selbst auch. Ich habe nicht gepredigt, sondern einen Vortrag gehalten. Ich wollte es analytisch verstehen, und ich fand, dass man kein auf Tröstung oder nur ästhetischen Genuss zielendes Passionskonzert in diesen Tagen hören kann – und bin doch selbst überwältigt worden von der Situation. In all dem wird auch das Dilemma und die Handlungsunfähigkeit deutlich, in der wir angesichts dieses ausgestellten Todes stehen – moralisch, militärisch, politisch. Religiöse Tröstung scheint hier ebenfalls zu versagen. Auch die an diesem Sonntag beginnende Karwoche wird daraus keinen Ausweg bieten.

Armin Nassehi, Montagsblock /166

11.04.2022