Ist Reden immer besser als Schweigen? Wir haben in München ein neues DFG-Forschungsprojekt begonnen, das sich mit der Frage nach dem „guten Sterben“ beschäftigt. Es geht nicht um das Sterben selbst, sondern um die Vorstellungen darüber, was gutes Sterben sei und sein soll. Wir – das sind neben unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Theologe Christof Breitsameter, die Soziologin Irmhild Saake und ich – untersuchen empirisch, welche Vorstellungen, Ziele, normativen Muster und Bilder des Gelingens im Umfeld von palliative care, also in Palliativstationen in Krankenhäusern und in Hospizen, gepflegt werden. Sieht man das Thema in einem größeren Rahmen, reiht es sich ein in eine Neubewertung dessen, was man neudeutsch Care nennt – sorgende und versorgende Arbeit an Schwächeren und Hilfebedürftigen. Dazu gehört Elternschaft und der private Haushalt ebenso wie Kranken- und Altenpflege, das Kümmern um andere usw. Es sind sehr unterschiedliche Tätigkeiten, die auch sehr unterschiedlich aussehen. Sie gehören einerseits geradezu naturwüchsig zu konkreten Lebensformen, zum Teil mit starken Rollenerwartungen, die auch geschlechtlich oder generationstypisch formiert sind. Sie werden aber auch als berufliche Tätigkeit ausgeübt. Gemein ist allen, dass sie in den ökonomischen Wertschöpfungsketten kaum eine Bedeutung haben, aber durchaus ein ökonomischer Faktor sind – sowohl auf der Kostenseite, aber auch im Sinne von Arbeitsmärkten. Jedenfalls wäre das menschliche Leben, in welcher gesellschaftlichen und kulturellen Form auch immer, ohne solche Tätigkeit undenkbar.
Unsere Forschung beschäftigt sich mit palliative care, also der Betreuung von sterbenden Patienten. Mit den Erfolgen der Medizin, der Lebensverlängerung, die zugleich auch längeres Sterben bedeutet, aber auch mit einem Selbstbewusster-Werden von Patienten, von Klienten überhaupt, rückte der sterbende Patient in den Fokus. Die Entstehung von Palliativstationen und Hospizen ist ein Segen. Die Abschiebung von Sterbenden in die organisatorische Unsichtbarkeit ist der Idee gewichen, dass auch hier care nötig ist. Dazu gehört nicht nur die im engeren Sinne ärztliche Schmerz- und Symptomkontrolle, die in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht hat, sondern auch Betreuung auf anderen Gebieten. Die Pionierin auf diesem Gebiet ist die britische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders (1918-2005), die bereits in den 1960er Jahren den Ton der Debatte prägte. Sie sprach von einer ganzheitlichen Aufgabe, die das Medizinische, Psychische, Soziale und Spirituelle verbinden sollte. Dahinter steht also die Idee, dass Sterben eine ganzheitliche Sache sein soll.
Die Grundidee ist, dass der betreute sterbenskranke Patient auch als jemand angesprochen wird, der selbst sprechen soll. Letztlich wurde der sprechende Sterbende entdeckt, der zu einem gelungenen Sterbeprozess insofern beitragen kann, als er empfänglich dafür sein soll, die Rolle des Sterbenden anzunehmen. Die Idee ist auch, dass gelungenes Sterben ein solches ist, das sich in Kommunikation niederschlägt – immer wieder findet man den geradezu postulierend formulierten Standard, dass man mit dem Leben abgeschlossen haben muss, dass Konflikte noch gelöst werden sollen usw. Am besten wäre es, wenn der Sterbende eingebettet ist in ein Geschehen, in dem die unterschiedlichen Perspektiven und Beteiligten gewissermaßen harmonisiert werden. Der Wille des Sterbenden, die Patientenautonomie, steht im Vordergrund des Diskurses. Das Ziel ist der sprechende sterbende Patient: Er soll mitreden, seine Bedürfnisse formulieren, möglichst am Ende sein Schicksal annehmen und in der Lage sein, eine Gesamtrechnung seines Lebens zu machen, spirituell und sozial damit zurechtkommen.
Aus der Perspektive der entsprechenden Berufsgruppen ist das ein durchaus nachvollziehbares Erfolgskriterium, schon weil ihre Berufsrolle an exakt diesen Standards hängt. Am einfachsten ist es vielleicht noch für den Arzt oder die Ärztin, weil hier Formen der Symptom- und Schmerzkontrolle nicht so sehr auf Kommunikation angewiesen sind. Aber für den Diskurs spielt dies noch die untergeordnetste Rolle – weswegen etwa in Hospizen gerade die Rolle des Mediziners eher marginal ist.
Erste Ergebnisse unseres Forschungsvorhabens zeigen, dass Sterbende unter Umständen gar nicht das wollen, was das normative Muster vorgibt. Manche wollen auch als terminale Patienten nicht nur nicht sterben, sondern auch nichts vom Sterben hören. Doch mit jemandem, der die Sterberolle nicht annimmt, gelingt es auch nicht, über das Sterben zu reden. Viele, die in diesem Bereich arbeiten, empfinden es gewissermaßen als Scheitern, wenn die Sterbeverläufe nicht so sind, wie es die Idee des „guten Sterbens“ nahelegt. Da entstehen zum Beispiel bei Pflegenden oder Sterbebegleitern Konflikte im Selbstbild, auch Konflikte zwischen den Berufsgruppen. Die meisten denken, dass etwas nicht richtig gelaufen ist, wenn diese normativen Muster nicht erfüllt sind.
Es gibt ohnehin in unserer Kultur eine starke Vorstellung von Gleichheit. Am liebsten wäre uns der sterbende Patient, der auf Augenhöhe mit den Beteiligten spricht. Wir haben den Eindruck, dass die Idee der Ganzheitlichkeit eher die Probleme der handelnden Professionen löst als diejenigen der Patienten. Der Patientenwille steht semantisch im Vordergrund, ist der Fetisch des Diskurses – nur soll der Patient schon auch das Richtige wollen. Wenn er ernst macht mit dem eigenen Willen, dann wird es für die ganzheitlichen Handlungskonzepte schwierig.
Dazu ließe sich viel sagen – und es soll nicht der Eindruck entstehen, dass hier die Palliativversorgung kritisiert werden soll, ganz im Gegenteil. Vielleicht ist gerade dies ein zivilisatorischer Lackmustest, wie eine Kultur mit ihren Sterbenden umgeht. Und hier sind die Fortschritte in den letzten Jahrzehnten geradezu epochal!
Interessanter ist hier, dass sich im Diskurs um die palliative care etwas abbildet, was auch in anderen Feldern der Gesellschaft eine Rolle spielt. Insbesondere die wissenschaftlichen, sagen wir besser: akademisierten Entscheidungsträger und Berufsrollenträger extrapolieren die Erfahrungen ihrer eigenen Praxis auf den Rest der Gesellschaft. Wer professionell übers Sterben reden muss, für den kann eigentlich nur Kommunikation das Medium sein, in dem Herausforderungen gelöst werden können. Wer vor allem das Reden über die Dinge lernt, verliert womöglich den Sinn dafür, dass Alltagspraktiken und Lebensformen oftmals gerade nicht auf völlige Transparenz angewiesen sind.
In unserem Feld gibt es den ärztlich und pflegerisch gut betreuten Patienten, der aber weder übers Sterben reden will, noch auch nur anerkennt, dass er stirbt. Ist das ein Fehler? Oder bildet es nicht eher eine grundlegende soziologische Erkenntnis ab: Das Leben wird praktisch geführt, und es etablieren sich diejenigen Praktiken, die sich bewähren. Wir wollen mit unserer Forschung darauf hinweisen, dass es den sprechenden Eliten gut ansteht, sich mehr für den praktischen Ordnungsaufbau zu interessieren statt für die Universalisierung ihrer eigenen Praxis. Der Sozialtyp des Sozialexperten hält mehr Kommunikation immer für besser als weniger Kommunikation, hält Augenhöhe immer für besser als die Asymmetrie von Situationen, glaubt an Konsens, obwohl das ja zumeist nur kurzfristige Einigungen auf eine Sprachregelung sind, schätzt Ganzheitlichkeit, ohne auch nur zu ahnen, dass sich das Ganze aus den unterschiedlichen Perspektiven des Ganzen ganz unterschiedlich darstellen kann. Die Probleme eines sterbenden Patienten sind andere als die einer die Medikation kontrollierenden Ärztin, eines Pflegers oder mancher ehrenamtlichen Helfer, die erst recht reden wollen, weil sie das dort bisweilen besser können als zu Hause, wo keiner auf sie wartet. Übrigens: Am ehesten können Seelsorger diese Form der Nichtkommunikation aushalten.
Es geht hier nicht nur um palliative care – was wir erforschen, ist geradezu eine Parabel auf viele Debatten, die wir kennen. Solche Debatten richten sich oftmals nur auf Orthofonie statt auf Orthopraxie. Ich weiß nicht, ob es diese Begriffe gibt. Wir schauen bisweilen nur darauf, ob richtig gesprochen wird, orthofon also, mit den richtigen Begriffen, die auf die richtige Gesinnung verweisen, mit angemessenen „professionellen“ Standards. Aber wir schauen wenig auf die richtige Praxis, orthopraktisch also, auf die Bedingungen, unter denen sich der Alltag bewährt. Wir interessieren uns für orthofone universalistische Bekenntnisse (für „Demokratie“, für „Solidarität statt Heimat“, gegen „Rassismus“ usw.), die leicht zu haben sind, und erfreuen uns des kommunikativen Ablasshandels. Aber wir interessieren uns wenig für die Praxisbedingungen, unter denen die Dinge stattfinden. Bekenntnisse sind die kleinste Währung, übrigens stark inflationsgefährdet und wenig zinsträchtig.
Ein gutes Beispiel für solche Inflation ist der sprechende Flüchtling, den wir gerne befragen, zum Grillfest einladen oder auf jahrmarktähnlichen Veranstaltungen Leckereien zubereiten und von seinen Erfahrungen erzählen lassen. Aber dass manche Alltagspraxis mit all diesen Bekenntnissen nichts anfangen kann und ein gelingendes Nebeneinander doch manchmal besser funktioniert, gerät aus dem Fokus. Nicht umsonst findet man oft die klügsten Sätze über die Flüchtlinge und ihre Integrationsmöglichkeiten nicht dort, wo gelernte akademisierte Sätze erfolgen, sondern dort, wo es um die praktische Arbeit geht. Man denke an Handelskammern, Handwerkskammern oder Ausbildungsstätten. Dort ist man übrigens auch in der Lage, Grenzen aufzuzeigen und kritische Sätze zu sagen, ohne dass es mit der Bekenntnisebene verwechselt werden muss. Ein Praxisbesuch dort könnte manchen rechten Rassisten ebenso verunsichern wie den Schwärmer voll der Gnade.
Ein anderes Beispiel sind Ehen oder Beziehungen. Sind sie dann gelungen, wenn sie permanent kommunikativ verflüssigt werden? Oder stabilisieren sie sich eher praktisch? Okay, sieht aus wie Suggestivfragen, und es ist auch kein Entweder-oder, aber es hilft, bei Haushaltsfragen auch an den kommunikativen Haushalt zu denken. Ganzheitlichkeit jedenfalls könnte manchmal autoritärer sein, als wir so denken. Der gerade anziehende Care-Diskurs müsste hierfür sensibel sein. Hoffentlich wird es mehr als: Gut, dass wir darüber geredet haben.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /61, 02. Juli 2018