Zynismus basiert – das hat Peter Sloterdijk in seiner großartigen Studie „Kritik der zynischen Vernunft“ (Frankfurt a.M., 1983) ausführlich begründet – auf der Fähigkeit, den seelischen Apparat so elastisch zu halten, dass er alle Widersprüche und Paradoxien der Gesellschaft aushalten kann. Das aufgeklärte Bewusstsein, so Sloterdijk, sei „krank an dem Zwang, vorgefundene Verhältnisse, an denen es zweifelt, hinzunehmen, sich mit ihnen einzurichten und am Ende gar deren Geschäfte zu besorgen“. Anders gesagt: Der moderne Mensch ist ein Anpassungsjongleur zwischen gesellschaftlichem Sachzwang und individueller Moral. „Intelligent sein und dennoch seine Arbeit verrichten“ nannte man früher Erwachsenwerden, heute ist es ein Betonpfeiler einer zunehmend aufklärungskranken Moderne. Das Arrangement mit dem Gegebenen soll vor Engagement und notwendiger Einmischung schützen. Die Weltlage lässt sich so jederzeit folgenlos in die private Verfasstheit integrieren. Selbst die aktuellen Kriegszynismen.
Auch am Ostermontag herrscht Krieg. Ein Zynismus besteht darin, dass die Opfer und Flüchtlinge weiterhin systematisch der Fähigkeit beraubt werden, ihr Schicksal selbst zu bestehen. Sie werden außer Kraft gesetzt, sich selbst zu behaupten, autark zu sein. Miniaturisiert im Wahrnehmungsfadenkreuz der Soldaten. Ohne Bewegungsradius und von menschlicher Würde ausgeschlossen. Gefesselt und erschossen neben Fahrrädern. Maximale Zerstörung jeglicher Selbstbehauptung. Wer seiner Autarkie beraubt wird, wird vom Menschen zum Tierwesen gestoßen. Endstation Massengrab.
Es herrscht Krieg. Ein Zynismus besteht darin, dass sich die sogenannten Verbündeten, also wir, unserer Fähigkeit berauben, dem Schicksal der Opfer direkt beistehen zu können. Im Gegenteil: Wir sind degradiert zu Hypothesenopfern des atomaren Weltuntergangs. Ohne Bewegungsradius und zum Mitleid aus der Ferne gezwungen. Immer in der Hoffnung, durch das Schicksal hindurchschlüpfen zu können. Gleichzeitig glaubend, sich selbst weiter behaupten zu können, und konstatierend, dass man permanent Hilfe zur Selbsthilfe schicken würde. Schwere Waffen, dicke Waffen, dünne Waffen, leichte Waffen. Moral fliegt hin und her. Endstation Waffenlieferungen.
Es herrscht Krieg. Ein dritter Zynismus besteht darin, dass die täglichen Hilferufe der Opfer auf den Spendenkonten im Westen indirekt humanitäre Gesten auslösen. Dahinter steht die Vorstellung, mit Geld einen abgefederten Beitrag zur Linderung der Not leisten zu können. Denn das menschliche Grundrecht auf Beistand im Widerstand setzt darauf, gegen ein erzwungenes Schicksal oder das gegnerische Bewusstsein mit allen Mitteln vorgehen zu dürfen. Das Grundrecht auf Autarkie, so eine Aufklärungsgirlande, basiert auf der Fülle von Wahloptionen. Die Einfalt des Aggressors braucht deshalb Vielfalt im Widerstand. Geld reicht nicht. Endstation neues Widerstandsdesign.
Intermezzo: Was wäre eigentlich, wenn der französische und amerikanische Präsident, der englische Premier und der deutsche Kanzler symbolisch ihren Regierungssitz nach Kiew verlegen und einen intensiven Diplomatietourismus aus aller Welt in Gang setzen würden? Flankiert von großen Opern- und Theateraufführungen auf den Plätzen von Odessa, Kiew und Charkiw? Und der europäische Feudalmittelstand fliegt mit Eurowings nach Odessa und besetzt die Strände. Zynisch, oder?
Es herrscht Krieg. Ein anderer Zynismus besteht darin, dass der westliche Mensch im Angesicht seiner überbordenden Wohlstandsfülle gerne dem Wunsch nach Askese anheimfällt. Ein Aufbegehren gegen das konsumistische Zuviel von allem. An Ostern um so mehr, wenn die Wiederauferstehung deklamiert wird. Wohlstandszweifel meets Kriegsrealität: Weniger essen, weniger Energie verbrauchen, weniger Autofahren (um den Wohlstand der Gegner zu schwächen). Glückssucher in der Selbstbeschränkung. Der antike Kyniker Diogenes von Laertius verweist in diesem Zusammenhang auf seine Geschichte mit der Maus. Er beobachtet eine selbige, wie sie hin- und herschlüpft, „ohne eine Ruhestätte zu begehren, ohne sich vor dem Dunkel zu fürchten, ohne nach Leckerbissen gierig zu sein“. So hätte er den Weg aus der Not gefunden, sagt Diogenes. Der antike Kynismus springt in die Moderne. Erst in der kynischen Reduktion löst sich der Mensch von jeglicher Nötigung. Kein Wunder, dass Diogenes bei Tageslicht mit der Kerze nach Menschen sucht.
Es herrscht Krieg. Der letzte Zynismus gefährdet womöglich das Kartenhaus. Denn den Menschen in der Ukraine nützt der Kynismus nichts, aber auch gar nichts. Sie haben keine Angst mehr vor dem Schicksal, sie sitzen in der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit fest. Der Wahrsager bei Nietzsche sagt: „Alles ist leer, alles ist gleich, alles war.“ Die Folge: Resignation. Es ist nichts mehr von gegenwärtigem Interesse. Wer fragt noch nach dem Morgen? Die Zukunft igelt sich ein. Keiner kann ihr mehr in die Karten schauen. Der gegenwärtige Moment wird in einen fragilen Stillstand versteift. Die Politiker des Augenblicks denken nicht mehr weiter. Und warten ab, bis Putin wieder klare Ansagen macht. Die Spezialoperation laufe nach Plan. Endstation nächste Eskalationsstufe.
Es herrscht Krieg. Ein Zyniker ist ein Mensch, dem nichts ernst, ehrwürdig oder heilig ist. Im Schatten des Zynismus attackiert er das Bestehende. Doch die Widersprüche und Paradoxien toben sich im Hintergrund aus. Die Aufklärung mutiert zum falschen Bewusstsein. Im Schatten einer Gesellschaft, in der die Zynismen ohne größere Folgen in die alltägliche Bewusstheit der Menschen eingebaut werden, passiert das Unvorstellbare. Toxische Soldaten töten ohnmächtige Zivilisten, ängstliche Verbündete opfern hilfsbedürftige Menschen, resignierte Kyniker zementieren das Ego-Erbärmliche und präpotente Wahrsager verhindern helle Zukunft.
Es herrscht Krieg. Im Kern meines kleinen Texts steht der existenzialistische Protest, der die Sinnlosigkeit zu bekämpfen versucht. Zumindest, die Sicht darauf nicht zu vergessen. Der Naive denkt: Resignation follows Sinnlosigkeit. Der Protestierende denkt: Selbstbehauptung follows Sinnlosigkeit. Der Anspruch auf Selbstverwirklichung darf nicht preisgegeben werden. Auch und besonders angesichts von Menschen, die in ein animalisches Minimum von menschlicher Existenz eingekerkert sind. In den Kellern zerbombter Städte vor sich hinvegetieren, auf Hilfe und Umschwung warten. Mit Grundbedürfnissen, die dort als Höhlenmalerei an kahlen Wänden enden.
Vieles, was gerade passiert, löst Probleme aus. Wann aber löst es wieder Probleme?
Peter Felixberger, Montagsblock /167
18.04.2022