Montagsblock /165

Nun ist es also doch so weit, dass wir nach fast zwei Jahren wieder ohne Mund-Nasen-Schutz einkaufen gehen können. Es infizieren sich aktuell zwar immer noch jeden Tag durchschnittlich rund 200.000 Menschen mit dem Virus, wohl jeder hat viele akute Fälle im Kollegen-, Freundes- und Bekanntenkreis, kennt Menschen die sich auch nach Wochen nicht wieder ganz von der Infektion erholt haben, die Positivrate aus den Laboren lässt mit 55,4 Prozent auf eine enorme Dunkelziffer bei den Zahlen schließen, aber: Wir können es uns jetzt selbst aussuchen, ob wir uns und andere schützen wollen. Natürlich war ich neugierig, als ich mich am Samstag auf den Weg in den Supermarkt machte. Und es erfüllte mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Stolz auf meine offenbar doch sehr rücksichtsvollen Stadtteil-Mitbewohner, dass mir dabei nur ein einziger einkaufender Mann ohne Maske begegnete. Das Verhalten der Menschen glich so sehr demjenigen der Wochen und Monate zuvor, dass ich zwischen den Einkaufsregalen noch einmal im Internet nachschauen musste, ob ich mich nicht doch im Datum geirrt hatte. Hatte ich nicht. Vielmehr wollten die anderen wohl genauso wenig wie ich ohne Not riskieren, krank zu werden oder unwissentlich andere zu gefährden.

Hätte es also vielleicht gar keine Vorgaben gebraucht? Wären die Menschen von sich aus vernünftig genug gewesen, hätte man Sie nur über den jeweiligen Stand des Wissens bezüglich der Eigenschaften dieses Virus auf dem Laufenden gehalten? Mit Schweden gibt es ein Land, das genau das versucht hat — so lautete zumindest das öffentliche Narrativ. Statt verbindliche Regeln, Verbote und Lockdowns gab es dort Empfehlungen und freiwillige Maßnahmen unter der Maßgabe, ohne Überlastung des Gesundheitssystems das gesellschaftliche Leben weitestgehend offen zu halten. Theoretisch klang das alles ganz wunderbar, wer würde das nicht wollen: Schutz ohne Einschränkungen? Das Ganze hatte allerdings bereits 2020 einen Schönheitsfehler, denn in Schweden gingen schnell die Verstorbenenzahlen in die Höhe. Gemessen an der Einwohnerzahl waren dort schließlich 2020 zehnmal so viele Menschen wie im Nachbarland Norwegen an und mit Covid gestorben. Insgesamt sind in Schweden mittlerweile rund 18000 Covid-Opfer gemeldet (1800 pro einer Millionen Einwohner), in Norwegen dagegen 2500 (460 pro einer Millionen Einwohner).

Den Schweden war das erstaunlich lange egal. Damals, im Mai 2020, kontaktierte ich eine ehemalige schwedische Kollegin, um sie zu fragen, wie es den Schweden mit dieser Bilanz gehe. “Ziemlich gut” war damals sinngemäß ihre Antwort. Der für die Strategie verantwortliche Epidemiologe Anders Tegnell sei ein nationaler Held. Es würden T-Shirts mit ihm verkauft und sie habe sogar jemanden gesehen, der sich dessen Gesicht auf den Arm tätowiert habe. Sowieso hätte man aber gar nicht anders handeln können, und das liege an einer Besonderheit der schwedischen Verfassung. Demnach sei es dort rechtlich gar nicht möglich, Schweden ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken oder Anpassungen im Bildungsangebot vorzunehmen.

Daran musste ich denken, als ich einen aktuellen Artikel in der Fachzeitschrift “Nature Humanities & Social Sciences Communications” las. Darin hat ein interdisziplinäres Team mit fachlichem Hintergrund in Epidemiologie, Medizin, Religionswissenschaften, Geschichte, Politikwissenschaften und Menschenrechten auf der Grundlage von E-Mails, Tagesordnungen von Treffen und Protokollen, Pressemitteilungen sowie wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Petitionen und Debattenbeiträgen rekonstruiert, wie die schwedische Strategie 2020 zu einer derart hohen Zahl von Toten führen konnte. Erstautorin Nele Brusselaers ist Epidemiologie-Professorin am angesehenen Karolinska-Institut in Stockholm. Das Resultat der akribisch dokumentierten Recherche ist verstörend.

Demnach übertrug die schwedische Regierung praktisch die gesamte Verantwortung für den Umgang mit der Pandemie der Public Health Agency, die wiederum ihre Empfehlungen nicht am aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung ausrichtete, sondern sich vollständig den Einschätzungen einer kleinen Expertengruppe mit sehr eng gefasster wissenschaftlicher Expertise um Andres Tegnell fügte. Auf diese Weise wurde der Umgang mit der Pandemie weitestgehend dem demokratischen Diskurs entzogen. Die Public Health Agency wiederum zeichnete sich durch wiederholte Fehleinschätzungen aus. Der Öffentlichkeit wurde etwa vermittelt, dass asymptomatisch Infizierte nicht ansteckend seien, dass sich das Virus nicht durch die Luft sondern über Schmierinfektionen ausbreite, dass Masken nicht helfen und sogar schädlich seien, dass eine Infektion dauerhaft Immunität verschaffe, dass Kinder keine Rolle für das Infektionsgeschehen spielten oder dass es keine Langzeitschäden wie Long Covid gebe. Die Autoren mutmaßen, dass diese Fehlinformationen absichtlich gestreut wurden, um keine Zweifel an der offiziellen Strategie aufkommen zu lassen, zumal wissenschaftliche Studien und auch die Erfahrungen aus anderen Ländern ja vorlagen — auch wenn es theoretisch der Fall gewesen sein könne, dass die Falschinformationen aus einem Mangel an öffentlichen Diskussionen resultierten. Auch die Behauptung, es sei gemäß der Verfassung nicht möglich gewesen, Maßnahmen zu verhängen, habe für eine internationale Krisensituation überhaupt nicht gegolten.

Es sei dabei erwartet worden, dass die Bevölkerung einseitig volles Vertrauen in die Autoritäten zeige, während die Regierung und die Public Health Agency der Bevölkerung solches Vertrauen nicht entgegenbrachten: Informationen wurden zurückgehalten, Daten zu Infektionszahlen und Todesfällen manipuliert und ihre eigene Entscheidungsfindung nicht transparent gemacht. “Die Absicht, das ‘Schwedische Bild” (Sverigebilden) national und international zu schützen, schien wichtiger als der Schutz des Lebens der schwedischen Bürger, insbesondere der Angestellten im Gesundheitswesen, der Alten, derjenigen mit individuellen Risikofaktoren (etwa Vorerkrankungen), Minderheiten und sozioökonomisch Benachteiligten”, schreiben die Autoren.

Tatsächlich seien insbesondere alte Menschen durch diese Strategie betroffen gewesen. Vielfach seien diese einfach einer Sterbebegleitung zugeführt worden, ohne überhaupt den Versuch zu unternehmen, ihnen eine Therapie zukommen zu lassen — und das offenbar ohne Absprache mit den Familien. Von der Öffentlichkeit sei dies relativ kritiklos akzeptiert worden, mit dem auch bei uns immer wieder geäußerten Argument, die Alten in den Heimen seien ja ohnehin bald gestorben. Dieser Sozialdarwinismus habe sich aber auch auf diejenigen Gruppen der Bevölkerung bezogen, die nicht in einer Position waren, sich ausreichend zu schützen. Bei den Sozialschwachen und auch Menschen mit Migrationshintergrund sei eine hohe Übersterblichkeit zu beobachten gewesen.

Selbst das Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, sei in Schweden nicht erreicht worden. Die Autoren berichten von existierenden Triage-Plänen für die Einweisung auf Intensivstationen (keine Einweisung für Übergewichtige, Über-Achtzig-Jährige und Vorerkrankte), deren Anwendung zwar öffentlich bestritten worden sei, die aber zumindest mit der Altersverteilung der tatsächlich Zugelassenen übereinstimmten. Es habe außerdem verschiedene Berichte zu einer vorliegenden Überlastung von Krankenhäusern gegeben. Das Fazit der Autoren: Die Schwedische Strategie war “charakterisiert durch einen moralisch, ethisch und wissenschaftlich fragwürdigen Laissez-Faire-Ansatz.” Zu keiner Zeit habe es Ansätze gegeben, sich kritisch mit eigenen Fehlern auseinander zu setzen. Stattdessen berichten die Wissenschaftler von Versuchen, offizielle Dokumente zu löschen oder zu ändern. Wer den Artikel liest, dem wird sehr deutlich vor Augen geführt, dass der schwedische Ansatz, sollte all dies wirklich so stattgefunden haben, tatsächlich nicht funktionieren konnte — auch wenn es verwunderlich ist, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass die gewählte Strategie öffentlich so lang nicht kontrovers diskutiert wurde. Man darf gespannt sein, wie diese Studie nun in Schweden aufgenommen wird.

Am Sonntagmorgen wurde im Übrigen dann auch noch mein am Samstag noch so stark gewachsenes Vertrauen in die Vernunft meiner Mitbürger wieder etwas abgebaut. Ich stand wie immer in einer Schlange vor der Bäckerei, deren winziger Verkaufsraum auch ohne übermäßige Beachtung von Abstandsregeln kaum mehr als einem aussuchenden und einem zahlenden Kunden gleichzeitig Platz bietet. Da kam eine vergnügte Frau ohne Maske und rief uns Wartenden zu: “Warum stehen Sie denn hier, die ganzen Regeln gelten doch nicht mehr, gehen Sie doch einfach rein!”. Und als sich die Schlange, wohl in Kenntnis der Dimensionen der Bäckerei, trotzdem nicht bewegte, lachte sie, rief spöttisch “Na, dann geh ich halt rein” und drängelte sich so vor allen anderen an die Spitze der Kundenschlange.

Sibylle Anderl, Montagsblock /165

04.04.2022