Auch dieser, der erste Adventsmontagsblock 2021 kommt nicht ohne Corona aus. Nachdem Sibylle Anderl vor zwei Wochen von einer Tagung berichtet hat und Peter Felixberger eine eindringliche Impfaufforderung gegeben hat, will ich heute einmal meine eigene Lebenswelt abscannen – nicht ohne eine gewisse Bitterkeit. Es gibt in Lebensformen ein gewisses Isomorphie-Phänomen: diejenigen, mit denen wir unmittelbar zu tun haben, sind uns ähnlicher als der Durchschnitt der Bevölkerung – ökonomisch, habituell, ästhetisch, sozialmoralisch, bildungsmäßig, nicht mehr so sehr konfessionell. Dieses Ähnlichkeitsphänomen dient einer gewissen Sicherheit darüber, was gilt und wie man sich im Alltag so verhält – und meistens bleibt es latent. Auch Distinktionsbemühungen gehören zu dieser je konzentrischen Form des Aufbaus unserer Lebenswelten. Man weiß irgendwie, wer die eigenen und wer die anderen sind – vor allem, wenn man das im Alltag gar nicht thematisiert. Dabei sind wir in pluralistischen Lebenswelten durchaus daran gewöhnt, mit Differenzen umzugehen, Konflikte darüber zu vermeiden und von zu direktiver Stellungnahme abzusehen. Zivilisiertes Verhalten scheint tatsächlich darin zu bestehen, nicht alles zu sagen, was einem gerade in den Sinn kommt. Und die vielbeschworene Authentizität kann nur gelingen, wenn man sie nicht übertreibt.
Was hat das mit Corona zu tun? Zumindest in der womöglich nicht repräsentativen Evidenz meiner eigenen Erfahrung in der letzten Zeit taucht zu meinem Erstaunen bei ansonsten klugen, mir zum Teil sympathischen Leuten, sogar bei Freundinnen und Freunden, nach dem Ähnlichkeitsprinzip übrigens alles Personen mit höchsten akademischen Abschlüssen, „bürgerlicher“ Sozialisation im weitesten Sinne und nicht ungeübt in der Interpretation schriftlich vorliegender Informationen, eine Form der Impfskepsis und Impfablehnung auf, die zum Himmel schreit. Ich überbetone diese soziale Lage deshalb so sehr, um deutlich zu zeigen, dass man hier mit Distinktionstechniken nicht weiterkommt. An wen denken wir üblicherweise bei denen, die nicht geimpft sind, obwohl sie könnten? In der öffentlichen Diskussion tauchen gerne migrantische Milieus als Kandidaten für Impflücken auf – weil sie die Sprache nicht angemessen beherrschen, oder Unterschichten, Ungebildete, die keine Zeitung lesen oder nur diejenigen, die, um es mit einem Kanzlerinnenwort zu sagen, „nicht hilfreich“ sind. Oder Rechtsradikale wie am Wochenende in Greiz und Eisenach, die gegen Coronamaßnahmen genauso hetzen wie weiland gegen Flüchtlinge – gewissermaßen patriotische Europäer gegen die Impfung des Abendlandes. Solche Leute sind ebenso entsetzlich wie praktisch – praktisch, weil sie das ganz Andere darstellen. Sie sind explizit und deutlich nicht so wie wir und man muss ihnen dankbar sein, dass sie die Rolle der Schurken übernehmen. Aber das ist wohlfeil.
Nein, ich spreche über „mein“ Milieu. Ich wundere mich über Leute mit Urteilskraft und sonst erstaunlichem argumentativem Stehvermögen, die jedes Stereotyp erfüllen, wenn es nur darum geht, das Impfen in Frage zu stellen. Fragwürdige Expertise, Schwurbler vor dem Herrn, Kolportagen über „Studien“, die nachweisen, dass die Impfung nicht hilft, dass der „genetische“ Impfstoff (den es schlicht nicht gibt) gefährlich sei, dass es kaum Daten über die Wirkungsweise gebe, dass das Großkapital einen Großversuch an uns vornimmt – man wisse ja, dass die Pharmalobby das gesamte Gesundheitssystem im Griff habe. Das Interessanteste ist, dass all die Evidenz, die dort in Anspruch genommen wird, ästhetisch wie Wissenschaft aussieht, oft Paper von Promovierten oder sogar Leuten mit Professorentiteln – dieses kulturelle Kapital scheint mehr wert zu sein, als es im Alltag erscheint. Die Verlautbarungen sehen ästhetisch aus wie wissenschaftliche Paper, Diagramme sehen professionell aus. Und die sprachliche Performance solcher Leute ist erstaunlich gut – man sieht darin, wie sehr eine Selbstzurechnung als Außenseiter im wissenschaftlichen/ärztlichen Milieu als rhetorisches Training dienen kann, das Evidenz eben wieder ästhetisch erzeugt.
Ich habe es immer wieder erlebt, wie diese Leute funktionieren: Auf jedes Argument lässt sich ein Text, ein Clip, ein Symbol finden, das zugleich performativ nachweist, dass die wissenschaftliche Evidenz der „etablierten“ Forschung nur dazu dient, der Wahrheit entgegenzutreten. Es ist übrigens ein Phänomen, das zumindest mir seit Pegida persönlich bekannt ist: Je mehr man versucht hat, Kritiker davon zu überzeugen, dass das Flüchtlingsgeschehen kein von langer Hand geplantes Programm zur Umvolkung und zum Bevölkerungsaustausch oder zur Zerstörung des „jüdisch-christlichen“ Abendlandes ist, desto mehr erschien ihnen das performativ als eine Bestätigung ihrer Sichtweisen. Würden die Eliten sich sonst so ins Zeug legen, uns abstruse Theorien vorzulegen, wenn sie nicht Schlimmstes im Schilde führten? Damals übrigens habe ich (das erste und einzige Mal im Leben) Zurechnungen auf meinen nicht-westfälischen Nachnamen gehört – ich müsse ja so argumentieren, wegen meiner Familiengeschichte, die sie gar nicht kannten (und sie meinten nicht den längst und erfolgreich verdrängten schwäbischen Teil davon).
So ähnlich ist es jetzt auch – der performative Erfolg von Impfaufforderungen, Impfkommunikation, Impfaufklärung, wissenschaftlicher Impferkenntnisse usw. ist bei den Skeptikern eine Bestätigung ihrer Skepsis. Und jetzt ist es weniger der nicht-westfälische Nachname als der akademische Titel und die Position als Ordinarius, die als Grund des Zweifelns herhalten müssen, um jeglichen Satz in Zweifel zu ziehen. Was früher der Büttel der Bourgeoisie war, ist jetzt der Kumpan der von der Pharmalobby gesteuerten wissenschaftlichen Großherdenversuche. Überhaupt Wissenschaft – alles gekauft.
Und das, wohlgemerkt, bei Leuten, die sich sonst etwas auf ihr „kritisches“ Bewusstsein, ihre Selbständigkeit und ihre Urteilskraft einbilden. Ich jedenfalls war und bin sehr erschrocken darüber, dass einige Leute bei diesem Thema fast alle Standards verloren zu haben scheinen – das aber durchaus in wohlgesetzten Formulierungen, korrekten Relativsätzen und manchmal sogar mit (selten gewordenem) angemessenem Konjunktivgebrauch bei der indirekten Rede. Das „Kritische“ kommt da manchmal wie ein Fetisch daher, der weniger über die Bedingungen der eigenen Urteile aufklärt, sondern eher zur Immunisierung (ha!) der eigenen Position. Diese „Kritik“ ist ein Fetisch – ein Fetisch der Elitenskepsis und der Selbstüberschätzung, Fachkompetenz durch authentische Selbstzurechnung eines (elite-)kritischen Bewusstseins und eines authentischen Gefühls der Selbstbestimmung aushebeln zu können und zu wollen. Dieser Art Kritik wird wie eine Pose vor sich hergetragen – als ästhetischer Ausdruck, weniger als das, was Kritik einmal wollte: die Bedingung der Möglichkeit von Urteilen und die Verflechtung von impliziten und expliziten Vorurteilen aufzudecken. Vielleicht ist es das Ergebnis einer schlechten Pädagogik, die sich mit der Aufforderung begnügte, alles kritisch zu „hinterfragen“, wie und mit welchen Standards freilich scheint hinter der Pose zu verschwinden. Hauptsache „kritisch“ – das ist in meinem Milieu jener konfessionelle Ausweis, zu den Auserwählten zu gehören, die sich um das „Was“ kaum Gedanken machen müssen.
Der Höhepunkt dessen, was ich unmittelbar erfahren habe, war zweimal (von ansonsten zurechnungsfähigen, „kritischen“ Menschen im unmittelbaren Umfeld) die Booster-Selbstimmunisierung unter den Argumenten: die Kritik und (angebliche) Ausgrenzung von Ungeimpften und Impfskeptikern nehme Dimensionen wie Anfang der 1930er Jahre an. Von hier ist es nur noch einen Steinwurf entfernt nach Greiz und Eisenach und zu jenen Querdenker-Demonstrationen und Impf-Pegidisten, denen gegenüber man dann wenigstens die Möglichkeit der deutlichen Distinktion hatte. Mich jedenfalls hat das in letzter Zeit nachhaltig verstört, nicht weil ich die „Argumente“ nicht kannte. Die kann man ja überall nachlesen, und wenn diese Leute sie aufgefangen haben, kann man sie mitsprechen. Neben den kritischen Argumenten über die Impfung überhaupt ist es in diesem Milieu derzeit eine libertäre Publizistik, die für „Freiheit“ plädiert, aber die subtile Geschichte seiner Bedeutung vergessen hat und darunter nur eine Form der selbstbezogenen Willkürfreiheit versteht. Aber vielleicht war da gar nichts, was diese Leute vergessen konnten. Auch hier reicht die Pose. Ähnlich wie „Kritik“ ist dann „Freiheit“ nur ein Konfessionssignal und kein Argument.
Aus diesen Sätzen spricht eine gewisse Bitterkeit, das gebe ich zu – die freilich eher naiv ist, wie ich ebenfalls zugeben muss. Denn an die praktische Wirksamkeit besserer Argumente unabhängig von ihren Praxisbedingungen zu glauben, ist ein intellektuelles Selbstmissverständnis, das mit einer schlechten Theorie der Praxis zu tun hat, in der Intellektuelle verabsolutieren, woran sie glauben: dass praktische Durchsetzung von Geltung dem folgt, was sie selbst tun. Dieser geradezu genialische Gedanke von Pierre Bourdieu zeigt, dass auch das nur eine Praxis ist, die sich den eigenen Gelegenheitsstrukturen verdankt: leere weiße Blätter vollzuschreiben und darin eine gewissermaßen praxisfreie Praxis der Geltungsansprüche zu behaupten. Dabei ist auch das nur eine Praxis, die sich ihren eigenen Bedingungen verdankt – das gilt ebenso für die Illusion, Aufklärung könne Skeptiker überzeugen, wie für die Skeptiker selbst, die sich die Dinge so verdrehen, dass sie passen – sie müssen nur posenhaft aussehen wie ein Argument.
Realistischer ist wohl die Annahme, dass Motive durch Opportunitäten und Gelegenheiten, durch Bequemlichkeit und Möglichkeiten, durch Nachahmung und Vermeidung von Nachteilen entstehen, durch Bewährung und sanften Zwang. Die Impfquoten werden steigen, wenn man als Ungeimpfter oder Ungeimpfte nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, wenn die Transaktionskosten für die Impfung gesenkt werden, etwa durch die Multiplikation von Impfgelegenheiten, wenn niedrigschwellige Möglichkeiten Routinen ermöglichen und die Gelegenheit das eigene lange Nachdenken verkürzt oder wenn es deutliche Gratifikationen und Anreize gibt (stattdessen verknappt die Bundesregierung den Impfstoff gerade ohne Not). Die steigenden Impfzahlen parallel zur Verschärfung der Umgebungsbedingungen bezeugen das deutlich. Und vielleicht hilft ja die Impfpflicht, weil sie von eigenen Motiven unabhängig machen kann – das könnte ein Ausweg ohne Gesichtsverlust sein.
Die Beschimpfung der Skeptiker und Gegner des einzigen Mittels, mit dem die Katastrophe aufgehalten werden kann, ist kontraproduktiv. Wer beschimpft wird, muss so zurechnungsfähig sein, dass ihn Schimpf und Schande trifft – das ist bei einem beträchtlichen Teil der Betroffenen freilich gar nicht der Fall. Die anderen wird man eher durch jene Medien erreichen, die ich genannt habe. Dass Handeln viel weniger auf abstrakten Geltungsbedingungen beruht als jenen Opportunitäts- und Gelegenheitsbedingungen, die ich angedeutet habe, ist zwar bitter, aber der Soziologie und Sozialpsychologie schon länger bekannt. Präferenzen bilden sich nicht im Hauptseminar. Auch nicht die, die das von sich glauben.
Armin Nassehi
Montagsblock /148, 29. November 2021