Montagsblock /147

Impfpflicht, Spaltung, Zorn. Viel Lärm. Immer lauter, unübersichtlicher. Wer näher hinhört, erkennt indes ein Muster. Eine erste Ordnung im öffentlichen Pro-und-Contra-Spektakel. Ziel ist es fast immer, eine unbewusste Selbstverständlichkeit herzustellen, die über Narrative und Storytelling abgesichert werden soll. Beispiel Corona-Debatte. Schlaglicht 1: Der Akt des Impfens, der als solidarische Maßnahme angepriesen werde, sei ein egoistischer Schritt. (Sahra Wagenknecht, Politikerin) Schlaglicht 2: Impfen sei und bleibe der Königsweg aus der Pandemie – und sei ein Akt der Solidarität. (Florian Schuch, Arzt)

Betrachten wir beide Zielwinkel etwas näher. Der eine basiert auf der urliberalen Individualismusidee, die Verantwortung so interpretiert, „dass dem Einzelnen ein breiter Spielraum des Ermessens gewährt und dieser nicht durch ständige Sanktionen garantiert wird“. (Ralf Dahrendorf) Der andere, nennen wir ihn den urdemokratischen Kollektivismus, koppelt das liberale Argument mit gesellschaftlicher Verantwortung. Drängende Probleme bedürfen aktiver und konstruktiver Lösungshilfen aller.

Wenn wir noch etwas genauer hinsehen, kommen drei weitere Ebenen kultureller Diskursverarbeitung ins Spiel. Die erste bezieht sich auf die sichtbaren Verhaltensweisen. Die Bilder kennt jeder: Menschen ohne Maske im Supermarkt. Menschen mit Maske beim Radfahren im Freien. Die zweite Ebene bezieht sich auf eine Art von Gefühl, wie es sein sollte. Hierzu gehören kollektive Werte wie Vertrauen, Verantwortung oder Respekt. Es wird komplizierter. Denn Vertrauen ist ein impliziter Vorgang. Einer muss damit anfangen und es dem anderen gewähren. Im Urliberalismus bedeutet Vertrauen, dem anderen die Freiheit zu gewähren, nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Im Urdemokratismus bedeutet Vertrauen, eine beiderseitige Vertrauensbeziehung aufzubauen. Gestützt von einer Art Urvertrauen in das System. Auf der dritten Ebene handelt es sich um unsichtbare Grundannahmen, wie der Einzelne auf die Umwelt reagiert. Sie werden weder hinter­fragt noch diskutiert und sind im Denken so verwurzelt, dass sie von den Anhängern meist gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Aber natürlich genau dann eine zentrale Rolle spielen, wenn es zu Konfliktbearbeitungen kommt. Wie geht man mit dem Argument des Anderen, des Fremden um? Im Urliberalismus werden Konflikte eher zur eigenen Bestätigung individueller Freiheit gesehen. Im Urdemokratismus werden Konflikte als Chance für Klärung und persönliches Wachstum anerkannt.

Diese unbewussten Selbstverständlichkeiten dominieren gegenwärtig das Zeitgespräch. Es kommt zu jeweils „richtig“ formulierten Sätzen, die als selbstvergewisserndes Mantra weiter benutzt werden. So schreibt Hilmar Klute in der SZ: „Droht die Spaltung der Gesellschaft, wenn man Ungeimpften ihr kindisches Recht auf Ungeimpftsein nimmt? Quatsch. Diese Leute rauben anderen die Freiheit.“ Und Richard David Precht formuliert es bei Markus Lanz im ZDF wie folgt: „Es gibt Leute, die hören das Wort Impfen und denken sofort: Das ist der Teufel. Und es gibt Leute, die hören das Wort Impfen und sagen sofort: Alles unbedenklich. Ja, und beide Pole sind totaler Quatsch.“

Wir merken: Im „November des Zorns“ münden die Konfliktbearbeitungen immer mehr in gegenseitigen Zorn. Die Impfgegner wollen sich nicht impfen lassen, weil sie ihre Freiheitsrechte bedroht fühlen. Die Impfbefürworter wollen zum Impfen zwingen, weil unser aller Freiheit mehr als bedroht ist. Dass darunter unbewusste Selbstverständlichkeiten lauern, weist nur darauf hin, wie sie mehr und mehr als diskursiver und sozialer Sprengstoff für unsere liberaldemokratische Koppelung verwendet werden.

Aber, und jetzt meine Meinung: Urliberal hilft nicht mehr weiter. Wer sich jetzt nicht impfen oder boostern lässt, ist eine Bedrohung für die Gemeinschaft, auch wenn man und frau sich persönlich noch so bedroht fühlen. Denn sie verlassen die gemeinsame liberaldemokratische Grundkoppelung!

Kein Quatsch. Ernst.

Peter Felixberger

Montagsblock /146, 22. November 2021