Montagsblock /146

Vor einer Woche war ich in Berlin bei einer Veranstaltung der Rudolf Augstein Stiftung. Es ging um eine (Zwischen-)Bilanz der Corona-Krise. Insbesondere sollte die Frage diskutiert werden, wie sich Wissenschaft, Politik und Medien in dieser Zeit geschlagen haben und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind. Das Besondere, zumindest aus meiner Sicht und Erfahrung, war, dass die Teilnehmer ein äußerst breites Meinungsspektrum abdeckten. Die Auswahl der Anwesenden war offensichtlich nicht mit der Zielsetzung einer gegenseitigen Standpunktbestätigung erfolgt, sondern war eher auf die Entstehung von Kontroversen aus.

 Diejenigen, die in der Durchsetzung der pandemischen Maßnahmen den Niedergang der Demokratie zu sehen meinen, waren genauso vertreten wie diejenigen, die den Schutz von Menschenleben und die Vermeidung eines kollabierenden Gesundheitssystems als eine nicht weiter zu diskutierende moralische Verpflichtung in unserer Gesellschaft verstanden sehen wollen. Es waren Kritiker des angeblich „gleichgeschalteten Journalismus” genauso zugegen wie Vertreter*innen großer Medienhäuser selbst. Förderer einer unpolitischen Wissenschaft kamen ebenso zu Wort wie Wissenschaftler*innen, die eher widerwillig in die Rolle öffentlicher Wissenschaftsvermittler und Politikberater geraten waren und diese Rolle dann als Teil ihrer gesellschaftlichen Verantwortung akzeptiert hatten.

 Es gab während der Vorträge und Diskussionen viel Kopfschütteln, befremdete Blicke und einiges Nachhaken in den Pausen. Die Pandemie hat es nicht leichter gemacht, uns aufeinander einzulassen und im Gefecht der aufgefahrenen Radikalmeinungen gemeinsamen Boden zu identifizieren. Es ist anstrengend. Schon einander zuzuhören ist anstrengend, weil man die Standpunkte und gegenseitigen Vorwürfe mittlerweile so gut kennt, dass man sie fast mitsprechen kann. Die Verfügbarkeit der Impfungen und die über uns hineinbrechende vierte Welle hat daran nichts geändert, ganz im Gegenteil. Zumal es nicht selten auch um etwas ganz Anderes geht als um Impfstoffe oder die Gefährlichkeit von Sars-CoV-2. Andere Befindlichkeiten, Sorgen und Frustrationen scheinen oft eine Rolle zu spielen, die im Hintergrund wirksam sind, statt explizit geäußert zu werden. Darum soll es hier allerdings nicht gehen. Sondern darum, dass es trotz allem wichtig ist, im Dialog zu bleiben, auch wenn es viel angenehmer ist, sich in seine Meinungsblase zurückzuziehen.

 Einige der Faktoren, die einen solchen Dialog selbst bei allem guten Willen schwierig machen, wurden bei der Veranstaltung eindrucksvoll deutlich, als es um die Beurteilung der journalistischen Berichterstattung in der Krise ging. Die Rudolf-Augstein-Stiftung hatte dafür zwei Studien in Auftrag gegeben, die jeweils quantitative Inhaltsanalysen durchgeführt hatten. Die eine, durchgeführt von Thorsten Faas von der FU Berlin und Mona Kewel von der Victoria University of Wellington, beschäftigte sich mit den Corona-Ausgaben der Talkshows von Maybrit Illner, Anne Will und Frank Plasberg. Die andere umfangreichere, vorgenommen von Marcus Maurer und Simon Kruschinski von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Carsten Reinemann von der LMU München, mit den Beiträgen von elf reichweitenstarken Leitmedien. Fazit der ersten Studie: Die Talkshow-Diskussionen drehten sich sehr viel und zunehmend kontrovers um die Corona-Maßnahmen, wurden aber meist sachlich geführt. Die zweite Studie bestätigte den meist sachlichen Charakter der medialen Berichterstattung, genau wie die Tatsache, dass in den Medien zunehmend starke Kritik an der Regierung geäußert wurde. Die Vorwürfe, die mediale Berichterstattung sei einseitig, unkritisch und regierungsnah gewesen (dies ist im Übrigen auch der Titel der zweiten Studie), bestätigten die Daten zumindest nicht, eher im Gegenteil.

 Es ist interessant, diese Studien zu lesen — nicht nur aus rein inhaltlichen Gründen. Vielmehr mögen sie deutlich machen, wie wenig wir manchmal unserer eigenen Erinnerung trauen können. In der Diskussion am vergangenen Montag kam es immer wieder vor, dass sich die Einschätzungen zur medialen Berichterstattung im vergangenen Jahr unter uns Diskutierenden massiv unterschieden, und dann ein Blick auf die Studiendaten für Aufklärung sorgen konnte. Wir kennen diese Art von Bias nur zu gut: Wir nehmen das besonders wahr, das in unsere eigene kohärente Interpretation der Welt passt. Gleichzeitig müssen wir in der medialen Dauerberieselung unsere Aufmerksamkeit auf das beschränken, das für uns im jeweiligen Moment besondere Relevanz besitzt. Dass etwa die außergewöhnlich starke Grippewelle 2017/2018 mehr als 25.000 Menschen in Deutschland das Leben gekostet hat, haben wir nicht deshalb nicht mitbekommen, weil die Medien das verschwiegen haben. Es hat uns damals schlicht nicht interessiert. Und wenn man oft genug hört, bestimmte Dinge seien in der Krise nicht thematisiert worden oder in bestimmter Weise dargestellt worden, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die eigenen Erinnerungen dieser Erzählung anpassen. Ich selbst war von einigen Befunden der Studien über meine eigene Zeitung überrascht. Gegen solche Verzerrungen der Erinnerung hilft nur: Sich selbst gegenüber kritisch bleiben und im Zweifel nochmal nachschauen, wie es wirklich war.

 Hinzu kommt ein weiteres Bias: Unser menschliches Bestreben, aus kleinen Stichproben allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Auch die Freude am anekdotischen Argumentieren wurde auf der Veranstaltung an vielen Stellen deutlich. Die eingehende Voraussetzung, dass persönliche Erfahrungen repräsentativ für die Allgemeinheit stehen, ist leider selten erfüllt. Entsprechend oft führen uns persönliche Einzelerlebnisse beim Schluss auf allgemeine Zusammenhänge in die Irre. Und noch ein anderes psychologisches Problem spielt in der Krisenbeurteilung eine wichtige Rolle: der Rückschaufehler. Wir neigen dazu, im Rückblick die Vorhersagbarkeit von Ereignissen zu überschätzen und in eine „Ich wusste es schon immer”-Haltung zu verfallen. Aber gerade in dieser Pandemie sollten wir gelernt haben: Wir wussten oft ganz schön wenig und mussten immer wieder Unerwartetes akzeptieren. Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer psychologischer Verzerrungen, die in der Krisenbeurteilung immer wieder zum Tragen kommen. Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat viele davon 2011 in seinem Buch “Thinking, fast and slow” sehr anschaulich aufgelistet und beschrieben (Alternativ nachzulesen im Artikel “Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases” zusammen mit Amos Tversky, erschienen in “Science” am 27.9.1974).

 All das wirkt Dialog-erschwerend. Unsere Psychologie fördert die Polarisierung. Das Gute ist: Man kann bei sich selbst anfangen zu schauen, an welchen Stellen man vielleicht solchen Biases erlegen ist, und versuchen, dem entgegenzuarbeiten. Auch das ist anstrengend. Und wenn es nur einseitig geschieht, bringt es wenig. Gut ist, wenn man unstrittige Daten hat, wie es vergangene Woche anhand der empirischen Studien der Fall war. Wenn man dann noch jemanden findet, der an einem kontroversen Austausch ernsthaft interessiert ist, dann kann es vielleicht klappen, dass man sich wieder näherkommt. Wir sollten die Hoffnung darauf zumindest nicht zu schnell aufgeben.

Montagsblock /146

Sibylle Anderl, 15. November 2021