Montagsblock /149

Meine Mutter sagt immer, in der Zeit vor Weihnachten seien die Menschen besonders verrückt. Als Psychiaterin hat sie in diese Dinge einen gewissen Einblick, und in diesem Jahr klingt ihre Einschätzung plausibler denn je. Eine friedliche Weihnachtsharmonie ist derzeit kaum absehbar. Stattdessen Wut, Frustration, Bitterkeit auf allen Seiten. Ich muss das gar nicht weiter ausführen, das hat Armin Nassehi vergangene Woche bereits an dieser Stelle überaus treffend übernommen. Eigentlich wollte ich heute etwas Versöhnliches schreiben. Darüber etwa, was Psychologen und Philosophen zu der Frage raten, wie man mit “science deniers” umgeht, Menschen also, die systematisch wissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen und Falschinformationen verbreiten. Wie kann man reagieren und vielleicht sogar im Gespräch bleiben, wenn man an den Feiertagen auf Familienmitglieder trifft, die Impfungen für Teufelszeug halten und das Corona-Virus für eine Krankheit, von der nur diejenigen bedroht sind, die sowieso bald sterben würden?

Philipp Schmid und Cornelia Betsch von der Universität Erfurt hatten zu dieser Frage im Juni 2019 im Journal “Nature Human Behaviour” eine umfangreiche empirische Studie veröffentlicht. Sie untersuchten, was passiert, wenn Verfechter der wissenschaftlichen, evidenzbasierten Methode öffentlich Falschaussagen widersprechen. Dabei unterschieden sie zwei verschiedene Strategien: Falschinformation kann durch wissenschaftliche Fakten zurechtgerückt werden (inhaltliche Widerlegung). Alternativ kann die oft manipulative argumentative Technik des Gegenübers enttarnt werden. Beispiele hierfür wären etwa unrealistisch hohe Anforderungen an die Sicherheit einer Aussage (“Es konnte nicht hundertprozentig bewiesen werden, dass es keine gefährlichen Nebenwirkungen gibt”) oder selektive Inanspruchnahme von Evidenz (“Es gab eine Studie, die gezeigt hat, dass die Impfungen die Fallzahlen sogar in die Höhe treiben”). Letztere Strategie bezeichnen sie als “technische Widerlegung”.

In sechs Online-Experimenten studierten Schmid und Betsch den Einfluss beider Strategien und deren Kombination. Testpersonen wurden dabei zunächst den Ausführungen eines Wissenschaftsleugners ausgesetzt, bevor dann ein Wissenschaftsvertreter mithilfe einer inhaltlichen und/oder technischen Widerlegung darauf antwortete. Dabei ergab sich, dass die Äußerungen des Wissenschaftsleugners tatsächlich zunächst einen deutlichen Einfluss auf die Einstellungen der Getesteten hatten. Dieser konnte allerdings durch die wissenschaftsnahe Gegenargumentation deutlich abgeschwächt werden — und zwar mit beiden Strategien der inhaltlichen und technischen Widerlegung gleichermaßen.

Anders als frühere Studien kam es nie zu einem “Backfire-Effekt”, zu dem Resultat also, dass die korrigierende Reaktion auf die Missinformationen zu einer Verstärkung des Glaubens an die Missinformation führte. Das Fazit also: Falschem öffentlich zu widersprechen ist immer die bessere Reaktion als resigniert zu schweigen. Der Wissenschaftsphilosoph Lee McIntyre hat dieser These jüngst ein ganzes Buch gewidmet (“How to talk to a science denier”, MIT Press), in dem er von seinen Erfahrungen in der Anwendung dieser Strategien berichtet. Dass diese Anwendung durchaus anstrengend ist, kann man sich vorstellen. Auch Schmid und Betsch schreiben in ihrem Artikel, dass man in die entsprechenden Diskussionen nicht mit zu hohen Erwartungen gehen sollte.

Das etwa wäre mein versöhnlicher Text gewesen. Endend mit dem Appell, diese Strategie jetzt besonders bewusst anzuwenden, verbunden auch mit dem Vorhaben, denjenigen zuzuhören, die begründete Fragen und Unsicherheiten mit sich herumtragen. Aber nach dieser Woche frage ich mich, ob diese Überlegungen nicht mittlerweile gewissermaßen unvollständig sind. Denn tatsächlich sind es nicht nur die Kampagnen von Missinformationen, denen wissenschaftsnahe Teilnehmer am öffentlichen Diskurs begegnen müssen. Es sind mittlerweile auch persönliche Angriffe, die in erschreckender Weise immer massiver werden. Wenn nun etwa die Physiker Dirk Brockmann, Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann in der Bild-Zeitung als “Lockdown-Macher” an den Pranger gestellt werden — völlig kontrafaktisch und ohne ein Wort über die Opfer der vierten Welle zu verlieren —, kann man Wissenschaftlern nicht mehr verübeln, wenn sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und Kampagnen der Missinformation einfach geschehen lassen.

Es ist ohnehin nicht ihr eigentlicher Job, dagegen zu kämpfen. Für die meisten Wissenschaftler gilt, dass sie charakterlich den öffentlichen Auftritt meiden, sonst hätten sie vermutlich einen anderen Beruf gewählt, der weniger Konzentration und Introversion erfordert. Dass sie sich trotzdem in gesellschaftliche und politische Diskussionen einschalten, um dort ihr Wissen zu teilen und falsche Vorstellungen sachlich zu korrigieren, ist daher etwas, wofür sie großen Dank verdienen. Deutschland ist bislang relativ gut durch die Pandemie gekommen ist, und dass das so ist, verdanken wir schließlich auch ihnen. Mindestens aber müssen sie vor derartigen Angriffen geschützt werden, um die Freiheit wissenschaftlicher Politikberatung zu gewährleisten.

Dass solch eine wissenschaftsfeindliche Kampagne in einer Situation passiert, in der mit dem Tod ringende Patienten vom Süden Deutschlands in den Norden verlegt werden, in der viele notwendige medizinische Behandlungen angesichts überlasteter Krankenhäuser verschoben werden müssen, in der viele Familien jetzt vor Weihnachten um geliebte Menschen bangen oder gar trauern — das macht wütend und sprachlos. Wie soll man da noch diskutieren?

P. Schmid, C. Betsch: “Effective strategies for rebutting science denialism in public discussions”, Nature Human Behaviour, https://doi.org/10.1038/s41562-019-0632-4

Sibylle Anderl, Montagsblock /149

06. Dezember 2021