Im Montagsblock /127 vor zwei Wochen habe ich anlässlich des Erscheinens von Kursbuch 205 „Musikbox“ davon erzählt, dass ich bei der Arbeit am Schreibtisch gerne Musik höre – und habe es damit erklärt, dass Musik eine Zeitstruktur wie das Bewusstsein hat und deshalb eine Analogie zwischen Musik und Bewusstsein angenommen werden kann. Bewusstsein sei vielleicht selbst so etwas wie Musik, habe ich etwas übertrieben formuliert. Daran sei hier angeschlossen.
Eine gute Freundin hat mir gestern eine alte Aufnahme mit der Altistin Kathleen Ferrier geschickt – eine Arie aus Händels „Ottone. Re di Germania“ (HWV 15) mit dem Titel „Spring is Coming“. Abgesehen davon, dass das schon vom Datum her stimmte, war und ist diese Aufnahme ein unglaubliches Erlebnis. Ich kannte Kathleen Ferrier zuvor zugegebenermaßen nicht. Sie wurde 1912 in Preston, Lancashire, in England geboren und starb 1953 in London. Sie erfuhr eine musikalische Ausbildung am Klavier, war sängerische Autodidaktin, war aber während ihrer kurzen Karriere als Opern- und Liedsängerin eine gefeierte Altistin, deren Schwerpunkt vor allem auf Brahms, Schubert, Schumann, auch Purcell, Gluck und Händel lag. Besonders bekannt wurde sie mit Gustav Mahlers „Lied von der Erde“, Benjamin Britten hat seine Oper „The Rape of Lucretia“ (Uraufführung 1946) Ferrier auf den Leib geschrieben. Die Sängerin erlag mit nur 41 Jahren einem Krebsleiden.
Warum erzähle ich das hier? Jedenfalls habe ich mir alle möglichen Aufnahmen mit Ferrier heruntergeladen und angehört – und der Faszination kann ich mich schwer entziehen. Aber auch das ist noch nicht unbedingt berichtenswert. Es ist etwas anderes. Im Montagsblock vor zwei Wochen habe ich auf die Form des Zeitlichen der Musik hingewiesen, weswegen die Musik eben so sehr unserem eigenen Bewusstsein ähnele. Mit den über 70 Jahre alten Aufnahmen der Lieder von Kathleen Ferrier hat es aber noch eine weitere Bewandtnis. Darüber, dass die Stimme von Ferrier eine besondere Tiefe hat – und das ist sowohl auf die Tonhöhe als auch auf die Konzentriertheit des Vortrags gemünzt – will ich gar nicht unbedingt sprechen. Ich verstehe auch zu wenig davon, dies wirklich qualifizierend zu begründen, außer, dass diese Stimme besonders berührt.
Es ist etwas anderes, und zwar ein anderes Zeitverhältnis. Wie gesagt, die Aufnahmen sind zum Großteil über 70 Jahre alt, und gerade sie vermitteln einen ganz besonderen Eindruck. Auch hier ist die Musik vielleicht eine ganz besondere Kunst. Denn Sprachaufnahmen solchen Alters kennen wir zur Genüge – und das Besondere an ihnen ist doch, dass wir in Tonfall, Begrifflichkeiten, Sprecherpositionen und Anlässen eine Historisierung sehr leicht hinkriegen und auch daran gewöhnt sind, solche historisierenden Indizierungen hinzukriegen. Wahrscheinlich wird ein/e Musikwissenschaftler/in mit entsprechend geschultem Gehör und Wissen auch hier einer solchen Historisierung fähig sein. Ich bin es nicht, und doch sind diese Dokumente aus der historischen Vergangenheit anders als zeitgenössische Aufnahmen. Das bezieht sich weder auf die Singtechnik, auch nicht auf den sprachlichen Ausdruck, sondern auf etwas anderes. Vielleicht ist es die merkwürdige Verschränkung von historischer Zeit und Bewusstseinszeit, die hier in der Musik, und zwar in der gesungenen Musik zum Ausdruck kommt.
Und hier geht es nicht darum, dass die Sängerin schon verstorben ist – die Archive sind voll von Musikaufnahmen von verstorbenen Interpreten, dafür sind sie unter anderem da. Es ist eher etwas anderes. Es ist die Aktualität des Erlebnisses und zugleich die mit einem historischen Index versehenen Aufnahmen, die die 1940er und 1950er Jahre hörbar machen und dabei Unterschied und Nicht-Unterschied zugleich markieren. Was ich mich frage, ist dies: Liegt es an der historischen Ferne der Aufnahmen, die dann doch anders sind, als wenn sie von heute wären? Liegt es nur an meinem Wissen darum und an der Begeisterung für diese unfassbar konzentrierte Stimme? Oder ist es die Aufnahmetechnik, deren Unterschied zur heutigen man einerseits sehr genau hören kann, die andererseits aber sofort verschwindet, wenn man nur die Musik als Musik hört?
Ich weiß es nicht, und die Tatsache, dass ich die Frage nicht beantworten kann, scheint irgendwie Antwort genug zu sein. Meine vor zwei Wochen berichtete Unmittelbarkeit des musikalischen Erlebens und der Nähe dieses Erlebens zur eigenen (sic!) bewussten Verarbeitung scheint in diesen doppelten Zeitverhältnissen noch einmal sichtbarer zu werden, besser: hörbarer. Es sind doppelte Zeitverhältnisse, weil hier historische Zeit und Bewusstseinszeit zusammenkommen. Oder ist das eine Überinterpretation? Ich glaube nicht. Und wenn diese Zeilen nur dazu dienen, dass Leserinnen und Leser dieser Zeilen sich Aufnahmen von Kathleen Ferrier anhören, wäre schon etwas erreicht.*
* Mehr über Kathleen Ferrier erfährt man in diesem Essay des israelischen Musikwissenschaftlers Yakir Ariel.
Armin Nassehi, 22. März 2021
Montagsblock /129