Montagsblock /127

Kursbuch 205 erscheint in einer guten Woche. Es geht um Musik. Der Titel lautet: Musikbox. Im Editorial behaupte ich, Musik sei die subtilste Kunst, weil sie die Spannung zwischen Gestalt und Flüchtigkeit wohl am ehesten auf den Punkt bringt. Musik wird komponiert, hat Stile, wird notiert, folgt Regeln, hat einen historischen und kulturellen Bezug, ist als Kunstform wie jede andere Kunst mit vielfältigen Bezügen zu ihrer Umwelt ausgestattet. Aber sie ist auch flüchtig, sie kann nicht ins Museum gestellt, an die Wand gehängt oder gelagert werden. Ihre Flüchtigkeit liegt an ihrer Performanz – weil sie klingt, verklingt sie auch. Sie findet in einer Gegenwart statt, die selbst wieder aus einem Nacheinander von Ereignissen stattfindet. Musik muss aufgeführt werden, und die Verbindung der Töne wird zwar gespielt, aber letztlich beim Hören erzeugt. Physikalisch gesehen ist das Nacheinander von Tönen noch keine Melodie, sondern erst im Gehör wird aus dem Nacheinander einzelner Jetzte, einzelner Impressionen, einzelner Präsenzen eine Melodie – in der Gleichzeitigkeit und im Nachhinein der Erinnerung an die vorherigen Jetzte. Das ist letztlich paraphrasiert das, was der phänomenologische Philosoph Edmund Husserl mit seinem berühmten Melodiebeispiel beschreibt: das innere Zeitbewusstsein, das der Operationsweise des Bewusstseins entspricht.

Husserl beschreibt die Melodie als eine Eigenleistung des Bewusstseins, weil das Bewusstsein durch Erinnerung und Erwartung erst jene Kontinuität herstellt, die mehr ist als eine Serialität von Jetzten, sondern ein Bewusstseinsstrom, der sich selbst zu einem Kontinuum macht. Es ist kein Zufall, dass Husserl diesen Mechanismus des Bewusstseins am Beispiel einer Melodie beschreibt – denn unser Bewusstsein ist etwas Ähnliches: Ein Nacheinander von gegenwärtigen Bewusstseinsinhalten/Gedanken/Operationen, die vom Bewusstsein selbst in eine Kontinuität gebracht werden. Vielleicht ist Musik deshalb die subtilste Kunst, weil sie dem Operator, in dem sie letztlich erst Musik wird, dem hörenden Bewusstsein nämlich, strukturell ähnlich ist. Wahrscheinlich ist Musik deshalb so eindringlich, weil sie dem Bewusstsein nicht nur ähnlich, sondern in der Operationsweise eng verwandt ist.

Das ist sehr abstrakt, aber es entspricht zumindest auch meiner eigenen Erfahrung. Wenn ich schreibe (und das ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit), höre ich Musik, Musik die ich kenne und schon öfter gehört habe. Und sie stört nicht. Gemälde oder Skulpturen könnte ich nicht ansehen beim Schreiben, oder gar Gedichte oder einen Roman lesen oder einen Film sehen. Aber Musik hören – das geht (was nicht heißt, dass es auch Leute gibt, für die das keine Option ist und die Musik beim Schreiben stören würde). Warum geht es mit Musik? Ich erlebe das jedenfalls so, dass sich Musik, die ich kenne, mit der ich mich beschäftigt habe, die ich womöglich schon selbst gesungen habe, an die Operationsweise meiner Aufmerksamkeit anschmiegt und mitläuft, Aufmerksamkeit erzeugt, aber eine andere Aufmerksamkeit als die, die gleichzeitig für das Schreiben nötig ist. Musik scheint sich in den Bewusstseinsstrom direkt einzuschreiben, weil sie so parallel verläuft wie das Bewusstsein selbst – und Sinne anspricht, die nicht auf semantische Repräsentation oder auf ein explizites Verstehen angewiesen sind. Musik ist elementarer als Sprache und Sprechen. Elementarer als die syntaktische Regelhaftigkeit der Sprache.

Vielleicht liegt es daran, dass ich in meiner eigenen Biografie entscheidende Lebensereignisse, aber auch öffentlich bekannte Zäsuren mit Musik verbinde – eine Musik, die ich (auch zufällig) in diesen Augenblicken gehört habe. Die Anschläge im September 2001 in den USA sind für mich immer verbunden mit dem „actus tragicus“ (ausgerechnet!) von Johann Sebastian Bach (BWV 106) – nicht, weil es inhaltlich irgendwie passt (auch wenn es passt, aber das wäre animistische Überbewertung), sondern weil ich es da zufällig gehört habe. Als mein Sohn geboren wurde, und in der unmittelbaren Zeit danach, war es Beethovens 7. Symphonie, vor allem der unfassbare zweite Satz. Das wird immer damit verbunden bleiben. Während einer ziemlichen Lebenskrise waren es Schumann-Lieder, gesungen von Barbara Bonney, und „Summa“ von Arvo Pärt. Ich könnte noch andere Beispiele nennen.

Übrigens: Wenn ich eigene Texte konsultiere und darin lese, höre ich die Musik, die ich damals beim Schreiben gehört habe. Es war erst gestern wieder, als ich ein Buch zur Hand nahm und darin etwas nachsehen wollte, hörte ich eine der missae breves von Bach, nämlich vor allem das „gratias agimus tibi“ aus BWV 236. Mein Abitur 1979 ist eng verknüpft mit David Bowie, vor allem „Space Oddity“ von 1969 und „Rebel Rebel“ von 1974. Auch hier wären der Beispiele viele.

Derzeit fehlt die Musik – zumindest die aufgeführte und selbst gemachte. Und die Tonspeicher, früher auf Langspielplatten und Kassetten, heute auf CDs und in Dateien, sind nicht dasselbe, aber können genau das auslösen, was Musik tut – das Bewusstsein so zu parallelisieren, dass es eine Aufmerksamkeit erzeugt, die letztlich eine Form der Selbstbeobachtung ist, weil Musik der Ereignishaftigkeit der bewussten Operationen so verwandt ist. Vielleicht ist das Bewusstsein selbst so etwas wie Musik. Das wäre fast tröstlich.

Welche Musik mich später einmal an die derzeitige Pandemie erinnern wird, verrate ich übrigens im Editorial von Kursbuch 205 „Musikbox“. Nächste Woche!

Montagsblock /127, 22. Februar 2021

Armin Nassehi