Montagsblock /130

Neulich beim Impfen. Ich stehe in einer Menschenschlange. Ü-60-People sind zugelassen, Silberrücken, ungebügelte Gesichtshaut duckt sich vor auffrischenden Windstößen. Sonderaktion für einen nicht ganz so beliebten Impfstoff. In den Oberarm gespritzt werden Astra Zeneca-Dosen von der Resterampe, für die Älteren gut genug. Wortfetzen fegen über den Vorplatz. Hirnvenen blicken leicht gestresst in die Zukunft. Ein Mann drängelt sich vor, um noch ein Impfticket zu erhalten. Die Impfwilligen schnauben einmal kurz auf. Ich erkläre der Check-in-Dame, dass mein zweiter Vorname „Kastulus“ auf einen gewissenhaften römischen Christen zurückginge, der auch nichts anderes gemacht habe als das, was gewissenhafte römische Christen damals so gemacht haben: Ihresgleichen retten. Später wurde er sogar als Heiliger zum Schutz vor Tierkrankheiten angefleht. Die Ärztin könne 100-mal mehr impfen, betont sie kopfschüttelnd. Beim Check-out weise ich murmelnd darauf hin, dass man früher beim Impfen wenigstens eine Cola zur Belohnung bekam.

Zu Hause recherchiere ich das erste Impfpflicht-Gesetz in Bayern. Es stammt aus dem Jahr 1807. Verordnet am 26. August. Damned, das ist ja mein Geburtstag, nur 1960. Und in einem Rollokasten eines früheren Büros haben jedes Jahr Fledermäuse überwintert, deren Zirpen und Glucksen mich an dunklen Winternachmittagen bei Laune gehalten haben. Fledermäuse, Zoonose-Spezialisten, COVID-Spreader. Mir reicht es jetzt von den vermeintlichen Koinzidenzen. Biografische Querdenkerrillen – von Kastulus bis Fledermaus. Sofort zuschütten. Nur der Not keinen Schwung geben, sagt ein Sprichwort.

Schnell wieder in die private Paradoxieforschung. Ist sowieso gerade meine ganz persönliche geistige Medikamentenempfehlung gegen jedes Querdenken, Besserwissen und Wahrheitsmärtyrertum. Nehmen wir als naheliegendes Beispiel das Impfen. Wer geimpft wird, schlittert fast unvermeidlich ins Paradoxe. Einerseits stimmt er oder sie zu, dass der Staat sich um ihn oder sie sorgt, wie eine Hummel, die ihre Kinder schützt. Inklusive Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte, wenn es sein muss (welcome to the neverending data lockdown-show). Andererseits wird ihm oder ihr klar, dass er oder sie sich selbst besser versorgen und schützen muss, wie ein Murmeltier, das ständig auf der Hut sein muss. Inklusive Garantie der Grund- und Freiheitsrechte, wenn es sein darf (welcome to the grand parade of social distancing and desinfection).

Die moderne Gesellschaft kann aus dieser paradoxen Begründungslogik nicht heraus. Einmal von oben herab versorgt zu werden (top-down), sich gleichzeitig aber um sich selbst zu sorgen (bottom-up). Das richtige Maß finden? Der moderne Mensch hat sich gewöhnt, dass seine Begründungslogiken und daraus abgeleitete Prognosen nicht mehr eindeutig von oben oder unten kommen. Obwohl ständig zur Einheit dieser Differenzen, Widersprüche und Antinomien aufgerufen wird. Wir wissen allerdings: Jede Prognose trifft irgendwann auf eine Gegenprognose. Die jeweilige Realität ist so unterschiedlich wie ihre Annahme. Alles bestens unterlegt mit der heterogenen Wahrheit empirischer Sozialforschungsergebnisse.

Das Zwischendrin des Ungefähren ist die neue Orientierungsbühne. Kein Wunder, dass es beim Impfen zu jenen Begriffsfindungs- und Begriffsverwendungsstörungen kommt, die wir im Namen des alten Wahrheitsfurors heutzutage antreffen. Irgendjemand verwendet eine Begrifflichkeit irgendwo immer anders, als sie ein anderer versteht. Mit der Folge: Jeder Begriff wird entsprechend so aufgeladen, wie er im eigenen Kommunikationsraum und -kontext kompatibel und anschlussfähig ist. Jeder Impfgegner findet seine egoistischen Kleingeistkrümel. Und jeder Impfpflichtanhänger lässt sich seine repräsentativen Allmachtskristalle auf der Zunge zergehen.

Die derzeit vorherrschenden Argumente der Impfgegner und Impfbefürworter bilden deshalb keine dialektische These-Antithese mehr, sondern sind lediglich die dramaturgischen Bindekräfte einer zu treffenden Impfentscheidung. Aus dem Widersprüchlichen erwächst die Kompetenz der eigenen Entscheidung. Es bedarf offenbar einer ganz neuen Gelassenheit, mit der man seine vorläufige Entscheidung erörtert, deren Konsequenzen man später tatsächlich aushalten muss. Erwachsen sein bedeutet deshalb, mit Paradoxien und Unschärfen leben zu lernen. Und die Konsequenzen auszuhalten. Der nächste Lockdown naht. Meine zweite Impfung mit Astra Zeneca auch.

Auch, und gerade dann, wenn es widersprüchlich ist: Für mich ist das Recht auf eine persönliche Impfentscheidung unantastbar! Der heilige Kastulus wurde übrigens bei lebendigem Leib begraben. In der Religionsgeschichte ist er ein kleiner Held.

Montagsblock 130 / Peter Felixberger

12. April 2021