Montagsblock /101

Noch etwas über Thüringen? Ist nicht alles gesagt? Haben wir nicht in den letzten Tagen genügend politische Analysen gelesen? Müssen sie wiederholt werden? Nein, müssen sie nicht. Es lohnt sich aber, die menschliche Dimension der Ereignisse seit der Ministerpräsidentenwahl im Erfurter Landtag zu betrachten. Ich will mal ganz unpolitisch und auch ganz unwissenschaftlich einen Eindruck schildern, den ich anfangs verworfen habe, gerade weil er so unpolitisch klingt, geradezu naiv, unwissenschaftlich sowieso. Aber mein allererster und auch mein allerletzter innerer Impuls bei der ganzen Affäre ist tatsächlich, wie viel Dummheit, wirklich himmelschreiende Dummheit, sich hier offenbart – Abgründe und Untiefen, offensichtliche Krisen der Innenbeleuchtung beteiligter Köpfe. Es gibt genügend Gründe, politisch empört zu sein, noch empörter aber bin ich über die offenkundige Inkompetenz, nein, sagen wir es, wie es ist: Dummheit eines politischen Personals, von dem man sich schwer vorstellen kann, dass es mit diesen Fähigkeiten in irgendeinem anderen Bereich der Gesellschaft sein Auskommen wird fristen können.

 

Dummheit meine ich nicht als politische Kategorie, denn zu den Wenigen, die sich nicht dumm angestellt haben, gehören jene Leute aus der Höcke-AfD, die eine klug eingefädelte Strategie mit kaltem Herzen, deutlichem Kalkül und großem Erfolg durchgezogen haben: das Parlament und die demokratischen Parteien so vorzuführen, dass sie sich zur Kenntlichkeit entstellen, ist ein politisches Gesellenstück, von dem man sich schwer wird erholen können. Die AfD als der parlamentarische Ast einer rechtsradikalen Protestbewegung hat exakt das getan, was einer der Hauptgründe für Protest ist: den institutionalisierten Formen der Integration von Kritik und Opposition innerhalb des politischen Systems deren Unfähigkeit vorzuführen. Sie hat es geschafft, Bodo Ramelow und Thomas Kemmerich, Mike Mohring und Christian Lindner und wer noch beteiligt war, wie Schachfiguren zu führen und nun matt zu setzen. Ach, wären die Rechten doch ebenso dumm!

 

Deren Strategie geht vollkommen auf. Roland Tichy lässt auf seinem Blog einen Autor feixend vom Ende der „parlamentarischen Demokratie“ und von Abgeordneten als „willenlose Erfüllungsgehilfen ihrer linksgestrickten Eliten“ schwadronieren. Solch bösartige (auch keine politische oder wissenschaftliche Kategorie) Diagnosen kommen dabei heraus, wenn die Dummen sich daran versuchen, jene für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, die das selbst viel besser können.

 

Und dumm haben sie wirklich agiert. Der kümmerliche Kemmerich steht geradezu ästhetisch für die ganze Misere. Mit einer sprachlichen Performanz ausgestattet, die man öffentlich selten hört, gibt sich der Mann in den Worten seines Parteichefs als von der Situation „übermannt“ und „konnte nicht anders“ – was übrigens eine interessante geschlechtsspezifische Selbstdemontage ist. Aber gerechnet haben sie alle: Sie wollen eine Regierung bilden, die weder von der AfD noch von den Linken abhängig ist. Einfaches Strichrechnen hätte genügt, um diese Quadratur des Kreises für mindestens schwierig zu halten.

 

Wie dumm muss jemand wie Lindner sein, der ernsthaft glaubt, mit der Strategie durchzukommen, seine Leute könnten sich von der AfD wählen lassen, um dann wirklich eine Regierung zu bilden? Für wie dumm muss er seinen Souverän halten, wenn er glaubt, uns allen verkaufen zu können, das alles sei ein Versehen? Sollen wir uns die sogenannte „bürgerliche Mitte“ denn als vertrottelten Männerkreis vorstellen, der die Folgen seiner Handlungen nicht abschätzen kann und will? Es geht gar nicht darum, ob der politische Instinkt fehlt oder gar der explizite politische Wille da ist, dies zu tun – es geht darum, sich überhaupt vorstellen zu können, dass man damit durchkommen kann, um sich danach im Fernsehinterview wie ein ertappter Teenager vorführen zu lassen. Wird man ihn sich jemals wieder als jemanden vorstellen können, dem man zurechnungsfähige Politik zutraut?

 

Wie dumm muss der vermutlich bald ehemalige Fraktionsvorsitzende der CDU in Thüringen eigentlich sein, sich auch nur vorstellen zu können, dass eine Minderheitsregierung unter Führung der kleinsten Partei irgendwie hätte handlungsfähig sein können und dass er in der Union damit durchkommt, deren Stellungnahmen aus Bayern, NRW, Schleswig-Holstein sehr deutlich waren? Von der Intervention Angela Merkels aus Südafrika ganz zu schweigen.

 

Wie dumm war es, andere Möglichkeiten von vorneherein  ausgeschlossen zu haben? Die breite Anwendung der sogenannten Hufeisentheorie, nach der sich „die Ränder“ auf der rechten und auf der linken Seite auf Augenhöhe träfen, war letztlich ein Freifahrtschein für die Höcke-Strategie. Man muss kein Freund der Linken in Thüringen sein. Und man sollte auf die DDR-Reste des SED-Nachfolgers hinweisen und das für bedenklich halten. Man muss ihr Verständnis für Despoten wie Hugo Chávez oder Nicolás Maduro befremdlich finden. Man kann ihre Politik aus guten demokratiekompatiblen Gründen für falsch halten – tatsächlich halte ich selbst den grundlegenden Politikansatz, für den die Linke steht, für falsch. Aber genau dafür ist die Demokratie gemacht: Kooperation und Opposition von politischen Antipoden auf zivilisierte Weise sicherzustellen – aber darum geht es hier nicht.

 

Die Rede von den „Rändern“ war nur deswegen plausibel, weil die Unterscheidung so schön einfach ist, was davon entlastet, nach politischen Lösungen zu suchen. Aber die Regierung Ramelow für so linksradikal zu halten, wie die AfD rechtsradikal ist, kann man nur dumm nennen. Ramelow hat eine brave sozialdemokratische Regierungspolitik hingelegt und keineswegs polarisiert, zugleich mit Zustimmung in ganz unterschiedlichen Milieus und offensichtlich guter parlamentarischer Zusammenarbeit mit den Oppositionsparteien CDU und FDP. Angesichts dessen die Ränder gleichzusetzen, führt zu einer unnötigen Lähmung des Parlaments. Begriffen haben das die am rechten Rand, die Dummen dagegen nicht. Sie hielten einfach an einer Kategorienlehre fest, die ihre Anschauungen blind gemacht hat für jegliche Schattierung. Dass es anders geht, kann man sich eigentlich leicht vorstellen. Vorgemacht hat es die neue österreichische Koalition, in der zwei erheblich ungleiche Partner aus einer Notsituation eine Tugend gemacht haben und ungleich geblieben sind – beschrieben in meinem Montagsblock /99 vom 13. Januar.

 

Am peinlichsten ist bei den Dummen gerade, wie  inflationär das F-Wort nun auftaucht. Man hat nicht-linke Politikerinnen und Politiker lange nicht so oft „Faschismus“ sagen hören wie nach der Wahl des neuen Ministerpräsidenten. Sie mutieren gerade zu semantischen Antifaschisten, erschrocken darüber, dass die AfD wirklich die AfD ist, nachdem man sie von außen darauf hingewiesen hatte. Man musste nun für eine sprachliche Distanzierung sorgen, deren Frequenz peinlich klingt, nachdem man die operative Distanzierung nicht hinbekommen hat, genau: aus Dummheit. Denn gerade war man noch eine Koalition der Mitte.

 

Würden die Dummen wenigstens zu dem stehen, was sie da betreiben, könnte man die Illusion haben, sie inhaltlich bekämpfen zu können. Sollen sie doch sagen, dass sie mit der AfD zusammenarbeiten wollen, wie es an der Basis und in manchen Ortsvereinen wohl durchaus gewünscht wird und wie es der scheidende Fraktionsvorsitzende schon einmal in Erwägung gezogen hat! Das wäre dann politisch dumm, aber nicht eigentlich dumm in dem hier gemeinten Sinne. Mit Dummen zu streiten, das geht kaum. Das ist das Desillusionierende der Situation.

 

Ich breche die Aufzählung ab, es gäbe noch viel weiteres Material. Und ich weiß nicht, um was ich mir mehr Sorgen mache: um die politischen Fehleinschätzungen über die AfD oder aber um die offenkundige handwerkliche Unfähigkeit und mangelnde Urteilskraft eines Teils des politischen Personals. Ich muss gestehen, ich weiß es nicht. Und ich wehre mich selbst gegen diese Frage, ich wehre mich sogar dagegen, dieses Personal dumm zu nennen, denn es sieht wirklich unpolitisch, womöglich apolitisch aus. Aber so ist es nicht gemeint.

 

Die Historikerin Birte Förster hält den Hinweis auf die Dummheit der Akteure für eine gute Portion wishful thinking – das würde heißen, die Akteure wollten wirklich, was da passiert ist. Da ist insofern etwas dran, als sich die Berichte mehren, dass etwa in der nächtlichen Sitzung der CDU-Landtagsfraktion große Zustimmung der Basis zur Wahl dieses FDP-Menschen vernommen wurde – endlich habe sich ein Knoten gelöst. Sie wollen also wirklich. Offensichtlich haben CDU-Landesverbände im Osten ein echtes Problem mit genuin rechten Strukturen in den eigenen Reihen. Man darf sich dann nicht wundern, dass ihnen nichts dazu einfällt, der AfD etwas entgegenzusetzen, denn die AfD wird nicht von allen als der politische Gegner empfunden. Stattdessen lassen sie die Agenda von ihr bestimmen. Es ist schon ein Dilemma, ganz offensichtlich mit Wählerinnen und Wählern zu tun zu haben, die die klassischen politischen Institutionen zugleich nutzen und beschädigen wollen. Über die vielleicht speziell ostdeutschen Gründe müsste man länger verhandeln. Frappierend ist jedenfalls, dass die Wahl einer äußerst rechten Partei, im Falle Thüringens kulminierend in Höckes revolutionärer Attitüde, für diejenigen, die sich am demokratischen Pluralismus und an gesellschaftlichen Liberalisierungen stören, eine geradezu rationale Entscheidung ist: Die AfD kann offensichtlich halten, was sie verspricht, auch weil die anderen so dumm sind und sich von ihr vorführen lassen – oder aber in Teilen der Union und der FDP, horribile dictu, gar nicht anders wollen.

Armin Nassehi

Montagsblock /101, 10. Februar 2020