Neulich habe ich mich in meine Kindheit zurückgebeamt. Rollschuhlaufen. Wettrennen um die Reihenhäuserzeilen, Kindergeschrei, holpriger Asphalt. Ich liege in Führung, leicht zur Seite gebeugt, meine Rollschuhe ziehen in die letzte Linkskurve. Selbstbewusst surren die linken Rollen, sie geben Halt, der linke Arm angewinkelt, die Bewegung wie auf Schienen. Doch rechts fängt es plötzlich an zu wackeln. Ein kleiner Stein hat die vordere rechte Rolle aufgebockt, die langsam wie ein Transportflugzeug abzuheben beginnt. Der rechte Arm reißt nach oben, wie beim Torschrei. Links und rechts zerren aneinander, immer mehr in ihre jeweilige Richtung. Ich blicke, immer noch in Führung liegend, nach unten. Wie von unsichtbarer Hand rasen der linke und rechte Rollschuh plötzlich aufeinander zu, treffen sich kurz und hart, bevor sie sich querstellen, eine Spur in den Teer ritzen. Mein Sturz war tagelang Gesprächsthema in der Siedlung.
Meine Eltern haben sich mit meinen Unfällen und daraus resultierenden Verletzungen durchaus wohlwollend beschäftigt. Vom Baum gefallen: Nasenbeinbruch. Im Dorfweiher knapp nicht abgesoffen: Trauma vor Gewässern. Am Baggerweiher in eine dicke Glasscherbe getreten: Klaffende Wunde. Wenn Kinder sich um sich selbst kümmern. Ich surfe weiter durch meine Kindheit. Oranges Bonanza-Rad, untergehende Sonne, Kräftemessen mit anderen Jungs auf dem Bolzplatz, die Schreie der Mütter aus den Häusern: Heimkommen, aber dalli! Badewanne. Abschrubben. Butterbrot mit Radieschen. Mutter lächelt aus der Küche. Vater schaut nach, ob wir schon schlafen.
Ich reise – zack – auf einer Drohne in die Gegenwart. Eine deutsche Großstadt, Spielplatz in einem Park. Mütter haben ihre Kinder im Visier. Nur nicht fallen. Nur nicht andere verhauen. Nur nicht schreien. Ein kleines Kind schubst ein anderes. Die Mütter türmen sich dahinter auf, palavern stellvertretend, zuerst Verständigung, dann Missverständnisse. Schon sind sie weg, ihre Kinder im Schlepptau. Zuhause. Der Vater ist nicht da. Marketingleiter irgendwo und nirgendwo. Am Wochenende geht er mit seiner Tochter auf den Spielplatz, schubst sie beim Schaukeln an, während er am Handy neue E-Mails checkt. Hin und wieder wundert er sich, was das Kind schon alles kann. Klettergerüst, Hängebrücke, Ringe, es bewegt sich leichtfüßig. Kein Hindernis ist ihm zu schwer. Oft schaut er seine Tochter an, als ob er sie eben kennengelernt hat. Beim Personalcoach im Unternehmen hat er kürzlich fallen lassen, dass er sich eigentlich mehr kümmern müsse, sonst bekomme er zu wenig von ihr mit. Die Selbstzweifel seien normal, antwortet der Coach. Einfach die Zeitfenster mit der Tochter intensiver verbringen! Die Mutter hat sich mit Projekt Kind verselbstständigt. Musikstunde, Turnstunde, englischer Sprachunterricht, Töpfer- und Malkurse. Nach der Kita sind die Tage vollgepackt. Von dem Kind existieren mittlerweile mehr Fotos als von ihren Eltern das ganze Leben hinweg. Jede neue Facette und Bewegung werden festgehalten. Eine ganze Bibliothek, grenzenlos, bedenkenlos, schamlos. Der Alltag wird zum Wettbewerb. Kleine Demütigung, wenn sie sich nicht traut, im Kinderturnen die schräg gestellte Bank hochzulaufen. Kleine Trauer, wenn sie in der Kita am Morgen erst einmal alleine herumsteht. Kleine Eifersucht, wenn das Kind der besten Freundin schon erste englische Sätze bilden kann.
Ich will ehrlich sein, ich habe einen eingeschränkten Blick auf Kinder. Selbst habe ich nur zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Innige Liebe, räumliche Distanz. Autonomie, hohe Freiheitsgrade und Selbstwirksamkeit sind meine fest getackerten Erfüllungskategorien von gelingender Kindheit. Wer mehr davon hat und erleben darf, blickt später eher auf eine erfüllte zurück. Ich glaube so etwas wirklich. Prägung als Babyboomer in einer Siedlung. Alle Kinder purzeln in der Früh um die gleiche Zeit aus den Häusern und Wohnungen. Auf dem Weg in Kindergarten und Schule.
Der französische Historiker Philippe Ariès sagt, dass die Neuzeit den Kindern die Freiheit geraubt und sie zu dressierten Opfern gemacht habe. Opfer? Ein großes Wort. Wenngleich jeder Täter erst einmal ein Opfer braucht, um ein Täter zu sein. Und ohne Opfer gibt es keine Täter. Ariès sagt, ganz früher gab es keine Kindheit, weil keiner dafür Zeit hatte. Geburt, ganz kurz Kind, dann sofort »erwachsen«, eingebunden in den gesellschaftlichen Alltag. Erst, als Erwachsene begonnen haben, die Kindheit der eigenen Kinder als eigene Zeitzone und Selbstentfaltungslinie zu entdecken sowie mit einem Zuwendungsimperativ zu interpretieren, konnten die Scheinwerfer elterlicher und pädagogischer Sorge auf sie fallen. Jede Regung des Opfers und jede Aktion des Täters konnten ab jetzt ausgeleuchtet werden. Neue Facetten von Kindheit werden sichtbar.
Nächster Drohnenzwischenstopp bei Michel Foucault. 14. Januar 1976, Paris. In ganz Europa toben Orkane und Springfluten, heftige Schneefälle, krasse Wetterkapriolen. Im warmen Hörsaal beginnt Foucault seine Vorlesung …
…Lesen Sie weiter im nächsten Kursbuch (ET: 2. März) in der FLXX-Kolumne. Mit weiteren Drohnenzwischenstopps, Bildungswetterhähnen und Väterhummeln sowie der Einsicht, warum Kinder heutzutage die eigentlich besseren Erwachsenen sind.
Peter Felixberger
Montagsblock/ 100, 27.01.2020