Wenn Frauen unter 35 etwas eint, dann ihr gestörtes Verhältnis zum Essen und ihrem Körper
Schön war die Zeit, als sich Frauen noch von dem Körper einer Schauspielerin oder einer Sängerin unter Druck setzen ließen. Man blätterte in einer Illustrierten herum, betrachtete das Bild eines Stars im Bikini mit straffen Brüsten, flachem Bauch und schlanken Beinen und fragte sich, warum man selbst eigentlich nicht so hübsch und vor allem so dünn sein könnte. Mittlerweile lässt sich kein Mensch mehr von dem Körperfettanteil und dem Body-Mass-Index einer Hollywood-Schönheitskönigin aus der Ruhe bringen. Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass junge Frauen gelernt haben, zu ihrem Körper und seinen Besonderheiten zu stehen. Der Grund ist, dass die Stars keine Vorbilder mehr sind. Sie sind zu fett.
Die Illustrierte Bunte hat vor einiger Zeit eine neue und sehr beliebte Rubrik eingeführt: „Auf der Bunte Waage“. Jede Woche ist eine andere Frau dran. Die Bunte zeigt zwei Fotos von ihr, eins mit dem Vorher-Gewicht und eins mit dem Nachher-Gewicht, dazu eine Schätzung der Redakteure über die neue Kilozahl und ein hämischer Kommentar. Fertig ist „Auf der Bunte Waage“. Da heißt es dann über die Sängerin Aubrey O’Day, sie habe schon immer mehr als nötig auf den Rippen gehabt, aber inzwischen sehe sie in engen Kleidern aus wie ihr Vorbild „Presswurst Mariah Carey“. In einer Bildunterschrift werden also gleich zwei Frauen beleidigt. Das schafft wirklich nur die Bunte.
Unsere Vorstellung vom guten attraktiven Körper ist mittlerweile im Wortsinn unmenschlich. Selbst Prominente, die sich mit Fitnesstrainern und Diätberatern umgeben, befinden sich noch weit weg vom Ideal. Der perfekte Körper, den man nicht im Fitnessstudio oder beim Nullfasten in Kloster erzeugen kann, sondern nur am Computer in Photoshop, ist so dünn und so schmal, dass man in ihm gar nicht überleben könnte. Es fänden darin schlicht nicht alle Organe Platz. Aber als Werbeträger für ein Parfum sieht dieser Kunstkörper natürlich super aus.
Körperhass, niemand ist dünn genug
Das beste, was sich über die aktuelle Magermode sagen könnte, ist also, dass sie fair und demokratisch ist. Alle müssen leiden, niemand ist dünn genug, niemand kann jemals gewinnen. Die schlechte Nachricht ist: Immer mehr junge Frauen sind essgestört. Wahrscheinlich verdrehen schon viele Leser die Augen, wenn sie mal wieder eine gefühlige Reportage aus einer Magersuchtklinik oder das Porträt einer Bulimie-Diva lesen. Essstörungen sind ein großes Medienthema. Auserzählt, so scheint es. Aber während der Bücherstapel mit einschlägigen Untersuchungen und wissenschaftlicher und populärer Literatur zum Thema immer dicker wird, werden die Frauen immer dünner. Jede zehnte junge Frau in Deutschland hat eine Essstörung. Jede dritte zeigt erste Anzeichen dieser Krankheit. Die Zahl im Krankenhaus behandelter Mädchen mit Essstörungen hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt, im Jahr 2012 waren es knapp 11.500 Fälle. Und da geht es nur um die schwer Erkrankten, den größeren Anteil machen die subklinischen Erkrankungen aus. In einer Umfrage des Jugendmagazins NEON erklärten nur 18 Prozent aller Befragten, mit ihrem Körpergewicht zufrieden zu sein. Die „Jugend von heute“ lässt sich kaum auf einen Punkt bringen, falls das jemals möglich war. Die Lebensstile, Gedanken und Träume unterscheiden sich viel zu sehr voneinander. Wenn es überhaupt etwas gibt, dass alle Frauen unter 35 eint, dann ist es der Hass auf den eigenen Körper.
Deutschland schafft sich nicht ab, aber wenn das so weitergeht, wird das Land ziemlich zweidimensional. Die Schönheitsideale werden immer konkreter und bizarrer. Es genügt nicht mehr, einfach nur einen flachen Bauch oder straffe Beine zu haben. Für ein paar Jahre galt es als besonders erstrebenswert, wenn das Schlüsselbein deutlich hervortrat. Mittlerweile wechseln diese Haut-und-Knochen-Trends jedes Jahr. Im Sommer 2013 sprach man vom „Thigh-Gap“, dabei sollte sich im Stehen und bei zusammengedrückten Knien zwischen den Beinen, auf etwa mittlerer Höhe der Oberschenkel, eine kleine Lücke bilden. Im Sommer 2014 tauchten dann plötzlich die „Bikini-Bridge“ auf: Die Hüftknochen sollen so weit herausstehen, dass das Höschen, wenn die Frau liegt, nur noch auf ihnen und nicht mehr auf den Bauch aufliegt. Die Magazine rufen diese Trends mit derselben Ernsthaftigkeit aus, mit der sie früher verkündeten, welche Haarfarbe nun „in“ sei oder welche Form der BH haben solle. Mittlerweile geht es aber nicht mehr um das Spiel von Täuschung, Verwandlung, Verkleidung – sondern um die nackte, dünne Wahrheit des Körpers.
Natürlich gibt es nicht den einen Grund, der diesen Trend erklärt. Kein Klatsch-Kolumnist treibt hunderte von Mädchen in die Essstörung und auch die Programmierer von Retusche-Software tragen kaum eine Schuld daran. Tatsächlich haben wir es hier wohl mit einer Vielzahl von Auslösern, Motiven, Pathologien zu tun. Keine Generation zuvor war so vielen Triggern dieser Erkrankung ausgesetzt wie die jungen Menschen heute. Nie war der Leistungsdruck, einen perfekten Körper zu haben, so hoch, nie die Modellage des eigenen Ichs so kompliziert und nie zuvor waren Frauen so vielen Bildern von irrealen, perfekten Körpern ausgesetzt. Die Essstörung ist nicht einfach irgendeine Krankheit, sie ist die Krankheit der Moderne.
Kulturgeschichte der Magerkeit
Der schlanke Körper ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Schon die alten Ägypter begeisterten sich für schmale Taillen und propagierten mittels ihrer Vasen-Pin-Ups höchst unrealistische weibliche Körpermaße. Die Griechen erfanden nicht nur die Demokratie, sondern auch Fat-Camps für zu dicke Jugendliche. Ein eigener Wissenschaftszweig beschäftigte sich mit der Frage, was eine schwangere Frau essen und wie sie sich verhalten müsse, damit sie ein schlankes und schönes Kind zur Welt bringe. Sokrates klagte über seinen dicken Bauch und ging joggen. Hippokrates braute für seine Patienten einen Mix aus Essig und Salz. Den mussten diese zur Mittagszeit und nach einem langen Fußmarsch trinken. Das Zeug schmeckte so schrecklich, dass sich die Patienten erbrachen. Dann erst durfte die erste Mahlzeit des Tages eingenommen werden. Im Mittelalter ließen es die Menschen etwas gemütlicher angehen. Gehungert wurde aus handfesten Gründen – es war einfach kein Essen da – oder wegen religiöser Motive. Hungerkünstlerinnen wie Katharina von Siena und Jeanne d’Arc bewiesen mittels ihrer Nulldiäten, dass sie in irgendeiner Weise höhere Wesen waren und nichts mit der triebhaften und verfressenen Realwelt zu tun hatten. Aber alle diese Modeerscheinungen, Macken und Ticks sind nicht vergleichbar mit dem Massenkörperwahn unserer Zeit, mit der seltsamen Mischung aus Wut, Strenge, Expertise und Präzision, mit welcher der moderne Mensch und vor allem die moderne Frau ihren Körper bearbeitet.
Die ersten Berichte und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Essstörungen fallen in den Beginn der Moderne. 1869 beschreibt der Brite Sir William Gull, Leibarzt von Königin Victoria, die Magersucht in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, dort allerdings noch unter dem Namen „Apepsia hysterica“. Zeitgleich studiert Ernest-Charles Lasègue, französischer Medizinprofessor und Leiter des Nervenkrankenhauses Hôpital de la Salpêtrière, das Verhalten hungernder Frauen und verwendet den Namen „L’Anorexie hysterique“. Bald wird die Krankheit auch von Künstlern als Thema entdeckt, die sie mystifizieren und somit adeln. 1922 erscheint die bis dato bekannteste literarische Auseinandersetzung mit einer Essstörung: Franz Kafkas Buch Der Hungerkünstler. Von seiner Umgebung wird der Hungerkünstler für seine Disziplin bewundert, erst kurz vor seinem Tod enthüllt er sein Geheimnis: Er habe einfach nichts finden können, was ihm wirklich schmeckt.
Wer sich das Auftreten von Essstörungen über die Jahrzehnte anschaut, kann leicht erkennen, dass die Zahl der Fälle steigt, wenn Schlankheit gerade besonders in ist. Der erste Anstieg fällt in die 1920er Jahre: Goldene Zeiten, in denen Fülligkeit nicht mehr bedeutete, dass es einem an nichts mangelt, sondern, dass man maßlos und gierig ist, ohne Disziplin. Dann die 1960er Jahre, als der Minirock zur Uniform wurde. Wieder Zeiten des Aufschwungs und auch der Abgrenzung: Dick sein war gestrig, spießig, muffig. Mitte der 1980er Jahre entstanden in Deutschland die ersten Beratungsangebote, Spezialkliniken eröffneten und die Krankenkassen erkannten die Störung an und übernahmen die Behandlungskosten. Die ersten Prominenten wie Karen Carpenter oder – wenig später – auch Prinzessin Diana gingen mit ihrer Erkrankung an die Öffentlichkeit. Gebracht hat das gar nichts. Im Gegenteil. Die Wellen und Wellentäler der Magerkeitsstatistiken aus früheren Zeiten haben nur wenig mit den Massenphänomen der Jetztzeit zu tun. Seit den 1990er Jahren steigt die Zahl der Erkranken stetig. Die Linie zeigt steil nach oben, ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen. Das kollektive Starren auf den Idealkörper dauert nun schon so lange an, dass es unsere Normen verändert hat: Nicht mehr das unrealistische Körperideal wird problematisiert, sondern der einzelne private Körper, der es nicht schafft, diesem zu entsprechen.
Individuum aus Haut und Knochen
Es ist kein Zufall, dass die ersten Fälle von Magersucht in die Zeit der Industrialisierung und Modernisierung im 19. Jahrhundert fallen. Der Mensch fand sich plötzlich in großstädtischen Mietshäusern Wand an Wand mit Fremden wieder, rauskatapultiert aus dem bekannten Umfeld mit seinen mehr oder weniger natürlichen Bezügen. Er erobert sich ein wenig Freiheit, gerade die Anonymität der Städte ermöglicht es, eine eigene, ganz persönliche Identität zu entwickeln. Er kann plötzlich erste Entscheidungen treffen, Papa und Pfarrer haben immer weniger zu sagen, vieles ist möglich. So entwickelt sich nach und nach die „Multioptionsgesellschaft“, wie sie der Soziologe Peter Gross nennt. Die Generation der heute 17- bis 30-Jährigen lebt ein Leben der Möglichkeiten. Sie können – ja müssen – alles selbst entscheiden: Lehre oder Studium? Stadt oder Land? Im In- oder Ausland? Frauen lieben, Männer lieben, Kinder kriegen? Sie können festangestellt arbeiten oder frei. Sie können heiraten oder sie können es lassen. Sie können alles. Und sie müssen alles wollen. Diese Fülle führt oft auch zur Überforderung, viele lähmt sie eher, als dass sie beschwingt. Da wächst die Sehnsucht nach etwas Übersichtlichem, dass einfachen Gesetzen folgt. Aktion, Reaktion. Weniger essen, abnehmen. Und tatsächlich ist ja auch die Magersucht eine ganz bestimmte, krankhafte Form der Kontrolle. Nicht ohne Grund nimmt sie ihren Anfang häufig in der Pubertät: einer Zeit des Übergangs, der Veränderung und der Hilflosigkeit. Man fühlt sich verloren, ausgeliefert. Die Essstörung ist der Versuch, wieder Einfluss zu nehmen und Handlungsmacht zu erlangen – über den Körper und im besten Fall auch über das ganze Leben. Was vor etwas mehr als 100 Jahren in Paris, London und Berlin zögerlich begann, ist heute – nochmal verstärkt durchs Internet – die einzig denkbare Lebensrealität für junge Menschen. Das Leben in einer Gesellschaft der Performer. Nie vorher war das Ich so wichtig, so inszeniert, so öffentlich, so exponiert – und dadurch auch so verletzlich.
Abbild der Unwirklichkeit
Natürlich bietet sich die Beschäftigung mit dem Körper schon deswegen an, weil unsere Gesellschaft eine Gesellschaft der Bilder ist. Natürlich werden hin und wieder noch Romane gelesen, Zeitungen studiert oder auch Tagebücher geschrieben. Aber viel mehr als von Texten sind wir doch von bewegten und unbewegten Bildern umgeben: Litfaßsäulen, der gute alte Fernseher, illustrierte Magazine, Werbekataloge, Youtube-Clips. Und diese Bilder zeigen ja eher selten Seerosen oder Kätzchen. Sondern menschliche Körper, vor allem Frauenkörper. Das Problem ist nicht nur das vorherrschende Schönheitsideal der langbeinigen, schmalhüftigen Frau, es ist auch deren Omnipräsenz. Das, was die Psychoanalytikerin Susie Orbach, die übrigens auch Lady Di behandelte, den „Einheitskörper“ nennt, hat sich im Netz epidemisch verbreitet: Auf dem Fotodienst Instagram werden pro Tag über fünf Millionen neue Bilder hochgeladen, auf Facebook sind es im gleichen Zeitraum sogar 300 Millionen.
Dass Magersucht ganz unmittelbar mit dem Konsum von Bildern von sehr schlanken Frauen in Zusammenhang stand, galt lange als unwissenschaftliche und stumpf-kulturpessimistische These. 2013 wurde sie endlich belegt. Eine Gruppe von Wissenschaftlern untersuchte den Internet-Konsum von Jugendlichen. Hatten diese online Bilder von superschlanken Models angeschaut, googelten sie danach doppelt so häufig wie andere nach Seiten, auf denen erklärt wird, wie man sich am besten eine Magersucht zulegt. Diese Studie hat dazu geführt, dass in Israel ein Gesetz gegen manipulierte Bilder eingeführt wurde: das „Photoshop Law“.
Die dünne Schwangere
Aber Essstörungen sind nicht das Problem hysterischer kleiner Mädchen, die zu viele Klatschmagazine lesen und nichts anderes zu tun haben, als mehrmals täglich den Umfang ihrer Oberschenkel zu messen. Längst wirkt der Druck einen perfekten Körper zu haben so stark, dass sich ihm auch Schwangere unterwerfen. Frauen, die natürlicherweise dick werden, deren Bauch natürlicherweise wächst – nämlich um den Umfang eines neuen Lebens.
Hier zeigt sich die besondere Absurdität der gesellschaftlichen verordneten Silhouette. Auch für Schwangere gilt jetzt: Eine kleine Kugel bekommen ist okay. Selber eine Kugel werden: eher nicht so. Kim Kardashian, die Ehefrau von Rapper Kanye West, erfuhr das am eigenen Leib. Eine bekannte amerikanische Kolumnistin schrieb: „Geht es nur mir so, oder habt ihr auch den Eindruck, Kim gebärt auch noch etwas aus ihrem Arsch?“
Als Herzogin Kate im Juli 2013 Sohn George auf die Welt gebracht hatte und kurz danach mit ihm und ihrem Mann vor dem Londoner Krankenhaus für die Fotografen posierte, löste ihre Erscheinung bei vielen Leuten Fragen aus: „Wieso ist da immer noch diese krasse Wölbung unter dem hellblauen Kleidchen? Sie hat das Baby doch im Arm und nicht mehr im Bauch.“ Fragen, die sich viele offenbar ernsthaft stellten, denn der Reporter der britischen Sun sah sich genötigt, sie in seiner Live-Übertragung zu beantworten. Etwas linkisch erklärte er den Zuschauern, dass es durchaus normal sei, dass der Bauch nicht gleich wieder flach sei. Alte Hebammenregel: Was neun Monate entsteht, braucht auch neun Monate, um wieder zu verschwinden.
Das gewohnte Bild ist ein anderes: Heidi Klum modelte nur fünf Wochen nach der Geburt ihres Sohnes Henry schon wieder in Unterwäsche. Michelle Hunziker moderierte vier Tage nach der Geburt von Tochter Sole ihre Satire-Show Striscia la notizia – in pinkem Minikleid. Dass Kates After-Baby-Bauch-Auftritt nicht Unverständnis hervorrief und Häme, sondern auch sehr viel Lob und Zuspruch, zeigt im Grunde nur eines: Das ganz Normale ist nicht mehr normal. 2013 haben sieben britische Wissenschaftlerinnen vom Institut für Kindergesundheit und der psychiatrischen Abteilung der Universität London gemeinsam eine Studie durchgeführt. Von den 739 schwangeren Probandinnen zeigte jede zehnte Probandin einzelne Verhaltensweisen einer Essstörung; hungerte, hatte Fressanfälle, erbrach sich, verwendete Abführmittel, Darmspülungen oder trieb exzessiv Sport. Und jede 15. Schwangere erfüllte alle Kriterien einer Essstörung.
Der Körper als Kunstwerk
Der Körper wird nicht länger als biologische Mitgift wahrgenommen, als etwas, das halt einfach da ist und schützenswert. Nicht mal mehr, wenn man ein Kind austrägt. Er darf und muss modifiziert werden. Die Auseinandersetzung mit dem Körper steigt, aber der natürliche Zugang zu ihm ist verloren gegangen. Als Arbeitsgerät wird der Körper nicht mehr gebraucht, das natürliche Verhältnis ist verloren gegangen. Es gibt keinen Umgang mit ihm mehr, der nicht darin bestünde, ihn mit dem Körperideal abzugleichen, auf das sich die westliche Welt geeinigt hat.
Alles, was von diesem Ideal abweicht, ist schambehaftet, wirkt unrein, vulgär, ja sogar eklig. Victoria Beckham hat neulich in einem Interview gesagt, es gebe zwei tägliche Verrichtungen, bei denen man ihr niemand zusehen darf: auf Toilette und beim Essen. Bah, Nahrungsaufnahme!
Der Trend geht seit Jahren zu weniger Natur: Körperbehaarung ist out. Dafür kommen jährlich neue Deos auf den Markt, die nicht mehr nur die Transpiration verhindern, sondern gleich eine neue Note drüber legen. Fußdeos gegen Geruch von unten. Handdeos gegen Geruch von oben. Selbst Damenbinden werden inzwischen nicht mehr damit beworben, dass sie möglichst viel aufnehmen, sondern dass sie es möglichst tief einschließen, so dass kein Geruch entsteht. Wer sich am Vorabend mal vor den Fernseher setzt und die Werbespots anschaut, die die jungen Menschen in den Pausen zwischen den Daily Soaps präsentiert bekommen, der könnte zu dem Schluss kommen: Wer nach Mensch riecht, hat verloren. Und wenn man sich in seinem Freundeskreis umhört – ein gutes Seismograph für Dinge, die noch nicht im Fernsehen angekommen sind, aber bald sein werden – , der erfährt, dass viele Paare inzwischen doppelt verhüten: mit Pille und mit Kondom. Nicht aus Angst vor einer Schwangerschaft, sondern aus Abscheu vor Sperma. Die Frau möchte es nicht in sich haben und dem Mann ist es unangenehm, dass er solch natürliche Abartigkeit überhaupt aussondert.
Alles lässt sich verstecken, verschönern, verändert. Man kann nicht nur Haare abschneiden, sondern auch drankleben. Augenbrauen könne abrasiert und woanders hin gemalt, ja sogar eintätowiert werden. Brüste werden versetzt, Bäuche gestrafft, Nasen gestutzt, Kinne modelliert. In Korea hat jede zwei Frau eine OP durchführen lassen, die die Stellung der Augen verändert.
Unfreie in der Freiheit
Nun muss man sich nicht nach den Zeiten zurücksehnen, in denen die Menschen noch ein „natürliches Verhältnis“ zu ihrem Körper hatten. Über weite Strecken der Geschichte bestand die Existenzberechtigung weiblicher Körper darin, penetriert zu werden und Kinder zu gebären. Im Grunde läge also eine große Freiheit darin, den Körper nicht mehr als Naturschicksal hinnehmen zu müssen, sondern ihn pflegen und verschönern zu dürfen. Modifikation als Ermächtigung. Das Problem ist nur, dass diese Körperarbeit eben nicht genossen wird. Und alle so verdammt einfallslos dabei vorgehen.
Am Besten sieht man diese Stereotypie und diesen Zwang ausgerechnet an einen Ort, der doch das Reich der Freiheit und der Pluralität hätte sein sollen: dem Internet. Jeder ist hier, gemäß der Radiotheorie von Bert Brecht, zugleich Sender und Empfänger und ist nicht mehr ein Opfer der Manipulateure in den großen Medienhäusern. Jeder kann seinen Platz finden, seine Interessen und Neigungen befriedigen. Soweit die Theorie.
Identität entsteht im Austausch mit der Umwelt. Früher war es eine Großfamilie inmitten einer Dorfgemeinschaft, dann war es zumindest eine Kleinfamilie in einer Gemeinschaft, inzwischen ist es ein junger Mensch mit WLAN. Das Internet als Ort der Selbstinszenierung zu nutzen, kann förderlich sein, es kann sogar helfen, in der analogen Gemeinschaft gelebte Normen zu hinterfragen. Vielleicht gibt es im eigenen Dorf im Hunsrück keine lesbischen Frauen, im Internet aber gibt es sie und so ist eine neue Identität denkbar. Leider ist aber das Internet viel weniger divers, als es sein könnte. Weder hat sich die Utopie der Meinungspluralität bestätigt, noch hat sich die Ikonografie des Körpers erweitert. Gefavt und gelikt wird das Bekannte und Erwartbare, das Schöne, Glatte, Weiße – Inhaltlich wie optisch. Da wird aus der Spielwiese Internet schnell ein Pausenhof mit überfüllter Lästerecke. Junge Menschen nutzen das Internet anders, als sich das linke Kulturtheoretiker und Entwicklungspsychologen gewünscht hätten. Man will sich nicht ausprobieren und variieren, man sucht vor allem eins: Bestätigung. Auf Youtube laden Mädchen Video von sich hoch, verbunden mit der Bitte, sie zu bewerten: hübsch oder hässlich. Wie findet ihr mich? Über zweieinhalb Millionen Treffer listet Youtube bei der Suche nach Stichwort „Am I pretty?“. Schulkinder stehen da in ihren Kinderzimmern, die Augen geschminkt, die Bluse geöffnet und suchen nach Zuspruch für ihren Körper, der ihnen offenbar schon verleidet wurde. Das übliche Einstiegsalter in die Essstörung liegt inzwischen bei elf Jahren.
Etwa die Hälfte aller Fotos, die uns im Internet begegnet, ist technisch manipuliert. Und sogar die unmanipulierten Bilder entsprechen kaum der Realität, weil jedes junge Mädchen selbstverständlich all die Tricks beherrscht, die den eigenen Körper dünner aussehen lassen als er ist. Man kann den Bauch einziehen und schwarze Kleider tragen, den Hals recken, eine Lichtquelle von oben nehmen, die scharfe Schatten wirft, überhaupt die Kamera möglichst hoch heben, weil so der Unterleib proportional kleiner und schmäler erscheint.
Es wäre naiv zu glauben, dass junge Menschen, die damit aufgewachsen sind, das selbst ein Waschmittel eine eigene Farbe, einen Jingle und einen Geruch haben muss, nicht auf die Idee kommen, auch sie bräuchten ein Konzept, eine Markenbotschaft, eine Identity zum Herzeigen. Präsentier‘ dich, sei einprägsam – so hieß es zuerst in Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ . Heute sind es Youtube-Stars, die mit ihren kostenlosen Alltagsfilmen mehr Jugendliche erreichen als das herkömmliche Fernsehprogramm und ihren Zuschauern die kapitalistische Formel einhämmern: „Zeig, wer du bist. Zeig, was du kannst. Dann erreichst du auch was.“ Längst wird der Begriff der Wiedererkennbarkeit, früher noch Werbesprech, ganz unkritisch auch auf Menschen angewandt. Erfolg geht nur über Selbstvermarktung. Und dabei gilt: Optik ist alles. Und: Alles muss raus.
Vor wenigen Jahrzehnten manifestierte sich das gelungene Leben im stetigen beruflichen Aufstieg. Zu Beginn der Laufbahn schloss man mit dem Arbeitgeber einen Vertrag auf Lebenszeit, bis das die Rente oder der Herzinfarkt euch scheidet. Solche geraden Karrieren gibt es aber heute kaum mehr. Also sucht der moderne Mensch nach neuen Selbstbewusstseinsankern. Nach anderen Beweisstücken, mit denen er sich selbst und seiner Umgebung demonstrieren kann, wie diszipliniert und erfolgreich er ist. Eine Frau mit einen kleinen, festen Hintern bekommt heute ähnlich viel Anerkennung und Bewunderung wie ein Mann in den 50er oder 60er Jahren, der seinen Dienst-Mercedes herzeigte und sein holzgetäfeltes Eckzimmer.
Wer junge Menschen dabei beobachtet, wie sie Selfies machen, der erkennt, dass sie mehr sind als ein Foto vom eigenen Gesicht oder Körper. Sie verorten das Motiv, sich selbst, in einem zielgruppenrelevanten Umfeld. Nie zufällig liegt Zeitschrift x oder y im Hintergrund, sieht man die Flasche eines bestimmten Getränks, bestimmten Schmuck, eine besondere Wanddeko, das Markenlogo des T-Shirts oder die Farbe der Nägel. Ein Selfie ist eine Komposition, eine Selbstdarstellung in Codes. Und der schlanke Körper ist der Basiscode.
Ein wahnhaftes System
In gewisser Weise kommt also in der Magersucht alles zusammen, was im Guten wie im Schlechten unsere Gesellschaft charakterisiert. Die Individualisierung, die Kontrolle, die Selbstermächtigung, die Entnaturalisierung, der Visual Turn, die Bilderflut, das Ego-Marketing und natürlich die Digitalisierung. So entsteht tatsächlich ein wahnhaftes System, aus dem es keinen Ausgang zu geben scheint. Man wüsste ja noch nicht einmal, wo man ansetzen sollte. Ermahnungen, doch einfach mehr zu essen, ausgesprochen an einzelne oder an eine Generation, verpuffen hilflos. Wie auch alle klugen Analysen. Wie auch dieser Text. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Ein retuschiertes Bild sagt mehr als tausend Bücher. Und die Botschaft dieses Bildes lautet immer: „Du bist zu fett!“
Soll man Magazine wie die Bunte zensieren? Das bringt gar nichts – der einzelne Internet-User ist ein genauso gnadenloser Normierer wie die fieseste Bunte-Redakteurin. Und jedes Mädchen mit Instagram auf dem Smartphone hat auch gleich die App „Facetune“ runtergeladen, eine Light-Version von Photoshop für unterwegs. Je mehr sich Frauen präsentieren, fotografieren, retuschieren, desto größer wird die Bilderflut, desto höher schlagen ihre Wellen. Wenn selbst die Schwangere es schafft, schlank zu bleiben, dann erhöht sich der Druck für die nichtgebärende Frau gleich doppelt. Jedes falsche Körperbild verändert das gesellschaftliche Bild weiter und prägt das Ideal, nach dem zu streben ist. Es sind längst nicht mehr nur die Medien, die diese Spirale betreiben, alle machen mit. Mehr Sender, mehr Content, mehr Druck. Das Opfer ist Täter ist Opfer ist Täter.
Lara Fritzsche, geb. 1984, ist Journalistin und Sachbuchautorin. Zuletzt erschien Das Leben ist kein Ponyhof.
Der Text erschien in Kursbuch 181 »Jugend forsch«. Dieses und weitere Kursbücher finden Sie in unserem Webshop.