LongRead: David Marc Jagella – Die Gesellschaftswaschmaschine

Alltag zwischen Funktion und Dysfunktion

Am 23. Februar 1767 stellt der Regensburger Theologe Jacob Christian Schäffer seine Rührflügelmaschine vor. Weder automatisch noch elektrisch betrieben, bedient man das Gerät mithilfe einer Drehkurbel. Ein hölzerner Bottich als Vorläufer der modernen Waschmaschine. Schäffers Gerät erinnert zwar nur sehr entfernt an eine heutige Waschmaschine, läutete aber eine neue Ära der Hausarbeit ein.

Obwohl seine Maschine nur 50-mal produziert wurde und kaum einem durchschnittlichen Haushalt zu Nutze kam, beginnt hier dennoch eine Entwicklung, die die Sisyphosarbeit des Waschens von Hand schrittweise obsolet macht. Mit der Durchsetzung der Waschmaschine in den 1960er und 70er Jahren endet – vor allem für Frauen, denn auch aktuellste Studien beweisen, dass Hausarbeit nach wie vor eine Aufgabe vor allem der Frauen ist – eine Epoche der Tortur. Mittlerweile besitzt beinahe jeder deutsche Haushalt eine Waschmaschine und wenn nicht, kann auf gemeinschaftliche Waschräume im Wohnhaus oder auf Waschsalons zurückgegriffen werden. Die Anzahl der Waschgänge, die wir durchführen, hat sich gesteigert und die Geräte sind energiesparender, leichter und »smarter« geworden. Aus unserem modernen Alltag ist die Waschmaschine nicht wegzudenken, ermöglicht den schnellen Takt und den hohen Organisationsgrad erst, sie lebt mit uns zusammen, wir leben mit ihr und verdanken ihr Erleichterung, sie nimmt uns Arbeit ab, ist ein echter Überlebenshelfer. Und doch wissen viele – darunter auch ich – nicht, wie eine Waschmaschine eigentlich funktioniert.

 

Funktion und Dysfunktion

Denn solange sie ihren Zweck erfüllt, scheint niemand über die Funktionsweise nachzudenken. Mehrmals wöchentlich befüllen wir das Gerät, gießen Waschmittel in die Einspülkammer und warten auf den knackenden Ton der einrastenden Türverriegelung, um dann den Ort des Waschens dann achtlos zu verlassen. Das Waschgeheimnis beginnt und läuft von selbst. Erst der schrille Piepston lässt uns zurückkehren und den Vorgang abschließen. Selbst dieses Geräusch überhören wir Waschmaschinenbedienende gerne, nehmen es vielleicht unbewusst wahr, gehen unserer aktuellen Tätigkeit aber weiter nach und sind dann doch erleichtert, wenn der nervenaufreibende Ton verstummt. Denn dann werden wir nicht weiter an die Pflicht erinnert, die nach erfolgreichem Waschgang auf uns wartet und nur stört: Wäsche aufhängen.

In einem Moment dieser sich für uns alle wiederholenden Waschtagdauerschleife bemerke ich als Waschmaschinenbedienender, dass meine Waschstücke stinken. Die sauber geglaubte Kleidung riecht unangenehm und ist noch immer schmutzig. Warum das? Wo liegt das Problem? An welchem Punkt des Funktionsmechanismus liegt ein Fehler vor? Um den Fehler aufzuspüren, muss man sich nun doch damit auseinandersetzen, wie die Maschine vor dessen Auftreten funktioniert hat. Ich begebe mich also auf die Suche, recherchiere, um zu verstehen, wie meine Waschmaschine funktioniert. Erst der Fehler im Funktionssystem lässt mich also genauer hinsehen. Die Störung wird zur Möglichkeit, die Mechanismen eines Prozesses zu begreifen. Und erst durch mein Nachforschen erfahre ich, welche Teile grundlegend in einer Waschmaschine verbaut ist. Sehr interessant all diese Komponenten, der Motor, die Elektronik, der Laugenbehälter um die Trommel, die Zu- und Ablaufschläuche, Pumpen und Heizungen, noch interessanter: das reibungslose Ineinandergreifen.

 

Gesellschaftswaschmaschine

Ich möchte eine zugespitzte These vorschlagen, die zwar metaphorisch erscheint, darum aber nicht weniger funktional ist: Unsere Gesellschaft ist eine Waschmaschine. Erst wenn Störungen auftreten, fragen wir uns, wie sie funktioniert. Erst dann spüren wir die Mechaniken auf, die unser soziales System am Laufen halten.

Die Covid-19-bedingte Ausnahmesituation ist selbstverständlich eine Störung, die weitaus folgenreicher ist als miefige Wäsche, aber sie hat offengelegt, was in beziehungsweise an unserem gesellschaftlichen System »stinkt«. Die Pandemie gleicht nicht einfach einem verstopften Flusensieb, nach dessen Reinigung die mühelose Funktion der Maschine wieder sichergesellt wäre. Unsere Gesellschaftswaschmaschine ist durch die Pandemie massiv gestört worden. Erst als alles auf Stopp stand, beschäftigten wir uns eingehend mit dem Aufbau und der Funktion dieser Maschine. Und wir haben bemerkt: Rassismus lässt die Heizstäbe durchglühen, in der Trommel hat sich schmierige Chancenungleichheit abgelagert, die in den Waschmittelkammern der Armut klaffen poröse Stellen und die ungleiche Stellung der Frau beziehungsweise überhaupt Genderungerechtigkeit verstopfen die Zu- und Ablaufschläuche. Die Komponenten, die in der Waschmaschine des gesellschaftlichen Systems mitverbaut sind, sind marode geworden, rosten vor sich hin, sind teilweise hochgradig abgenutzt. Als große Wohngemeinschaft hätten wir das natürlich schon lange bemerken können, immer mal wieder ruckelt die Maschine seltsam, gibt merkwürdige Geräusche von sich und konnte nicht alle Ladungen reinwaschen. Als alle Maschinen auf Stopp waren, mussten wir genauer hinsehen.

 

Konfrontation mit der Störung

Der Totalausfall beginnt für mich Anfang März mit der Schließung der Wiener Universität, an der ich studiere. Ausgehend vom Lockdown in Wien beschließen meine Partnerin und ich, die heimische Großstadtwohnung zu verlassen, um einige Tage bei ihren Eltern in ländlicher Region zu verbringen. Ich denke in meinem Unverständnis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich, dass es sich nur um einige Tage handeln wird und packe auch nach dieser Maßgabe. Nachdem wir im Grünen angekommen sind, werden sehr weitreichende Maßnahmen erlassen. Die Ausgangssperre tritt in Kraft und wir beschließen zu bleiben, um der Großstadt und dem Gefängnis der balkonlosen Wohnung zu entgehen. Alle Mechanismen des »Normalzustandes« sind plötzlich ausgesetzt – bis in alle Bereiche des privaten Lebens hinein. Am familiären Esstisch kommen jetzt Themen zur Sprache, die sonst nur marginalisiert ihren Weg in das private Gespräch gefunden hätten. Während in den Fernsehsendungen Experten und Betroffene diskutieren, sprechen wir, eine Gruppe mit buntdurchmischten Ansichten, beim gemeinsamen Abendessen über genau die gleichen Themen. Die eigene Filterblase in Wien zurückgelassen, geht es jetzt ums »große Ganze« und die unterschiedlichen Generationen und Lebensrealitäten, welche sich am Esstisch versammeln, bringen verschiedenste Einflüsse in den gemeinsamen Diskurs mit ein. Sprich: Jeder hat eine andere Auffassung und These zur nicht mehr funktionierenden Gesellschaftswaschmaschine. Die Existenz verschiedener Lebensrealitäten, mit ihren jeweiligen Wertesystemen, ist einem zwar immer latent bewusst, und doch wird erst im Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Welten das Nebeneinander unzähliger Perspektiven auf das Leben manifest sichtbar. Selbstverständlich weiß man, dass gewisse Sachverhalte von verschiedenen Menschen unterschiedlich betrachtet werden, aber einen bestimmten Grundkanon an Betrachtungs- und Bewertungsweisen setzt man voraus, häufig, ohne es selbst zu wollen und oft auch ohne zu es bemerken. Das ist einerseits problematisch, denn durch die Projektion der eigenen Weltsicht auf das Gegenüber treten Missverständnisse auf oder stellt sich gar Nicht-Verstehen ein. Andererseits sind gewisse gemeinsame Konventionen notwendig für ein gelingendes Sprechen. Die grundsätzlichen Differenzen unserer Esstischgruppierung zeigen auch, dass familiäre Gefüge Menschen zusammenbringen, welche sich nicht zwingend aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten miteinander verbinden würden. Ein Freundeskreis wird selektiv ausgewählt, am Esstisch übt man sich in Akzeptanz und Toleranz. Doch Streitgespräche in einem durchmischten familiären Kreis, in dem die jeweiligen Meinungen zwischen sehr konservativ und enorm liberal liegen, eröffnen auch, dass die Grenzen der Toleranz die ihr innewohnende Paradoxie offenbaren: Ist Intoleranz zu tolerieren? Eine absolute Toleranz müsste theoretisch auch Intoleranz tolerieren. Wenn ich nun als toleranter Mensch die Intoleranz eines anderen Menschen toleriere, und jener andere Mensch mich durch seine Intoleranz in meiner Toleranz aber einschränkt, geht meine eigene Toleranz nicht mehr vollständig auf. Wenn ich aber seine Intoleranz nicht toleriere, dann bin ich auch ein intoleranter Mensch, verhalte mich also theoretisch nicht anders als mein Gegenüber. Ohne jenes Paradoxon, welche bereits Karl Popper diskutiert hat, weiter zu vertiefen, lege ich offen, dass ich die Intoleranz, die versucht, eine freie demokratische Gesellschaft aus völlig gleichberechtigten Menschen in Frage zu stellen, nicht toleriere. Versuchen wir also, so tolerant wie möglich zu sein und die verschiedenen Wahrheiten der unterschiedlichen Lebensrealitäten zu akzeptieren. Aber versuchen wir ebenso, klar und deutlich gegen verletzende, beleidigende und demokratiezersetzende Intoleranz einzustehen. Um wieder die Metapher zu strapazieren: Unsere Esstischgruppe bemühte sich um eine differenzierte Diagnose der kaputten Maschine. Ideen und Maßnahmen zur Instandsetzung sollten aber unter der Maßgabe größtmöglicher Toleranz diskutiert werden. Besonders Buntwäsche liegt uns am Herzen.

 

Zwei von unzähligen kaputten Teilen

Nachdem sich der Diskurs im Frühling noch um die Krise der nicht mehr funktionierenden Maschine selbst drehte, verlagerte er schon bald auf die krisenbedingte Offenlegung der abgewirtschafteten Einbauteile. Aufmerksamkeitsbindend bei uns am Tisch waren vor allem zwei marode Einzelteile: der mit häuslicher Gewalt destabilisierte Laugenbehälter und die von Genderungerechtigkeit verstopften Zu- und Ablaufschläuche.

Der Lockdown zwang Menschen dazu, mit der Familie und damit in manchen Fällen mit dem Peiniger, beziehungsweise mit der Peinigerin auf engstem Raum verweilen zu müssen. Experten gingen schon sehr früh davon aus, dass sich die Zahl der Fälle partnerschaftlicher Gewalt erhöhen wird. In den verschiedensten Massenmedien kamen Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern und Menschen der Familienhilfe zu Wort. Die Familie fungiert zumeist als etablierter Ort des Glücks, des Zusammenhalts, der Gleichwertigkeit und der Freiheit. Dieses Konstrukt wird durch physische und psychische Gewalt negiert und höhlt damit auch das Wertesystem einer Gesellschaft auf Augenhöhe mit gleichen Rechten und Pflichten für alle Teilnehmer aus.

Darüber hinaus handelt es sich meist um Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Es ist erschütternd, wie viel Schmerz Frauen von ihnen nahestehenden Männern ertragen müssen. 81 Prozent der 2018 in Deutschland erfassten Fälle von Partnerschaftsgewalt hatten Frauen zum Opfer. Das zeigt die Auswertung des deutschen Bundeskriminalamtes.[i] Wenn es sich um Delikte von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen handelt, sind die Opfer 2018 sogar zu 98,4 Prozent weiblich. Hier wird deutlich, dass Frauen in weit größerem Ausmaß partnerschaftlicher Gewalt ausgesetzt sind als Männer. Und diese Zahlen spiegeln nur die tatsächlich erfassten Fälle. Die Dunkelziffer ist weit höher. Eine EU-weite Studie der European Union Agency For Fundamental Rights aus dem Jahr 2014, welche sich auf Befragungen von Frauen aus der EU stützt und qua Vorgehensweise auch die Dunkelziffer abdeckt, hat gezeigt, dass 22 Prozent der Frauen, die mit einem Mann in einer Beziehung sind oder waren, körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren haben.[ii] Ohne den Lockdown, der unser Augenmerk auf dieses Problem richtete, hätten wir uns jene Zahlen am Esstisch nie angesehen, hätten wir uns nie gefragt, wie wichtig die Funktion der Parzelle »Familie« für das Wohlergehen ihrer einzelnen Mitglieder ist, hätten wir nie verstanden, wie relevant ein stabilisierender Laugenbehälter für einzelne Familien als Teile der großen, gemeinsamen Gesellschaftswaschtrommel ist. Mikro- und Makrostruktur hängen hier eng zusammen: Wie soll das Wertesystem einer Gesellschaft funktionieren, wenn es im sozialen Gefüge der Familienstruktur ausgehebelt ist?

Die Reaktionen fallen – und fielen auch am Tisch – unterschiedlich aus, aber eine aus dem Lager der Männer kommt sofort: Nicht alle Männer seien schließlich so.

Dieser Kommentar spiegelt die Debatte um #notallmen wider. Er offenbart eine gewisse Verteidigungshaltung und einen Rechtfertigungsdrang. Es ist allen bewusst, dass nicht jeder Mann ein gewalttätiger ist, aber das Problem dreht sich um jene, die es sind. Die Thematik der partnerschaftlichen Gewalt steht auch in Verbindung dazu, wie wir als Gesellschaft die kulturell mitkonstruierten Gender »Mann« und »Frau« denken. Die Verteidigungshaltung, welche durch den Kommentar »Nicht alle Männer sind so« ausgedrückt wird, zeigt, dass Männer teilweise die Männlichkeit an sich und an den anderen Männern zu verteidigen glauben müssen. Sowohl das Problem und das Gespräch über männliche Gewalt werden mit dieser reaktiven Phrase abgeschmettert. Warum sollte man nun über jene Männer sprechen, die ihrem Partner oder ihrer Partnerin keine Gewalt zufügen? Zur »Männlichkeit« würde dagegen eher gehören, Verantwortung zu zeigen, gegen Gewalt an Frauen aufzustehen und sich an Initiativen zu beteiligen, die eben jene Gewalt bekämpfen. In diesem Diskurs muss verstanden werden, dass es nicht um eine Schuldzuweisung geht, die sich gegen das männliche Geschlecht per se richtet. Aber es geht um das Erkennen einer Verantwortung, die damit einhergeht, Mann zu sein.

Partnerschaftliche Gewalt offenbart, dass es eine Asymmetrie zwischen Mann und Frau in manchen Familienbeziehungen gibt und steht damit in Verbindung zu einer Thematik, die sich ebenfalls durch die gesamte Gesellschaft zieht und die die Schläuche unserer Maschine verstopft: Die Ungleichheit zwischen den (sozialen) Geschlechtern ist eine Komponente, an die wir uns so sehr gewöhnt haben, als wäre das erstickende Gurgelgeräusch der verstopften Schläuche der Normalzustand. Diese Ungleichheit steht darüber hinaus in enger Beziehung zu neoliberalen Ideen, die die Leistung des Menschen in den Vordergrund stellen, ohne zu bedenken, dass Leistung nichts ist, was von sozialer Beeinflussung unabhängig wäre. Die neoliberale Versprechung, jeder Mensch könne aus eigenem Antrieb alles erreichen, scheitert an dieser der Gesellschaft innewohnenden Ungleichheit und schafft es dennoch, jenes Scheitern zu verschleiern, schafft es immer aufs Neue, die verstopften Schläuche oberflächlich von Verkrustungen zu befreien. Mit dem Totalausfall durch Covid-19 jedoch wurde deutlich, dass es ganz neuer – durchlässiger – Schläuche bedarf. Nicht nur, um Geschlechter-, sondern auch, um Bildungsgerechtigkeit zu gewährleisten (was zum Teil miteinander zusammenhängt). Bildung darf  nicht von Herkunft (auch nicht von Geschlecht) abhängen, tut es aber: Kinder, deren Eltern nicht studiert haben, schaffen es nur selten an die Universität, und wenn sie doch dort ankommen, brechen sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ihr Studium ab als junge Erwachsene, deren Eltern selbst Akademiker sind. Die Bildungsmobilität ist dementsprechend nicht so allumfassend, wie sie gerne gepredigt wird. Als aufgrund der Covid-19-Ausbreitung die Schulen geschlossen wurden, dachte man zunächst noch nicht an die Kinder, die nun zu Hause ihr Lernen absolvieren sollten. Die Schwester meiner Partnerin ist ein junger Teenager und war teilweise sehr lange mit den komplexen Aufgaben beschäftigt. Auch mit Hilfe der Familie und der Möglichkeit, jederzeit nachfragen zu können, war das Lernen auf Distanz für sie eine große Herausforderung. Wie gestaltet sich die Situation also für diejenigen Kinder, welche keine Hilfe haben, mit allem allein zurechtkommen müssen? Manche Kinder waren – und sind es teilweise noch – mit den Lernaufgaben völlig auf sich selbst zurückgeworfen und konnten ohne die Hilfe der Lehrkräfte nicht den Fortschritt machen, den sie im Normalfall hätten erreichen können. Zum Teil ohne technische Geräte wie Laptop oder Drucker ausgestattet war und ist diese Zeit für manche Familien schwer zu meistern.

All diese Ungleichheiten waren bereits vor der Covid-19-bedingten Krise existent und für diejenigen, die darunter leiden mussten, auch sichtbar, ihre Wäsche roch immer schon ein wenig nach Ungerechtigkeit. Von der breiten Öffentlichkeit allerdings wurden diese Schwierigkeiten verdrängt.

 

Verdrängen, Verändern, Überleben

Das Rattern und Stottern, das Ächzen und Gurgeln bedingt durch die maroden Teile der Gesellschaftswaschmaschine haben wir nun also lange hingenommen, ignoriert, verdrängt. Als Nicht-Betroffener eine bequeme Haltung – das eigene Überleben steht schließlich nicht in Gefahr. Mittlerweile beginnt nicht nur bei uns am Esstisch (zwischenzeitlich sind wir wieder in Wien), sondern auch auf politischer Bühne die »Reparatur«, überall liest man, dass es »wieder losgeht«. Und das ist der Unterschied zu uns am Tisch, denn statt die maroden Teile der Gesellschaftswaschmaschine einer Generalüberholung zu unterziehen beziehungsweise sich um neue Einsatzteile zu bemühen, ist man sich offenbar einig, dass die Maschine wieder laufen soll wie zuvor, die »Normalität« bitte zurückkehren, der »Alltag vor Corona« wieder einsetzen soll. Die eifrigen, utopischen Vorstellungen über eine Veränderung unserer Konsumgesellschaft, die zu Beginn des Lockdowns in den Köpfen vieler Menschen entstanden sind – auch in meinem – scheinen sich nicht zu erfüllen. Gleichberechtige Teilhabe an Bildungsangeboten, Gendergerechtigkeit, sozialverträgliches Reiseverhalten, regionaler Lebensmittelkonsum, verbesserte Arbeitsbedingungen, wertschätzende Löhne für systemrelevante Berufe und eine grundlegende Veränderung unserer globalisierten Welt hatten viele Menschen, mit denen ich privat sprach, im Sinn. Doch trotz dieser vielen Gespräche zu Beginn des Ausnahmezustandes im März wurde nach und nach der Geist der Veränderung zu einem Gespenst der Angst vor dem Neuen. Unsere Gesellschaftswaschmaschine gibt uns, ebenso wie die gewöhnliche Haushaltswaschmaschine, einen Hinweis darauf, dass sie fertig ist. Doch anders als das gewöhnliche Gerät, das nur kundtut, dass es seine Arbeit fertig gestellt hat, ist die Gesellschaftswaschmaschine »fertig« im Sinne von ausgelaugt, überholt. Ihr Modell hat sich selbst überlebt. Die Warnsignale dürfen wir nicht überhören, es sei denn, wir nehmen billigend in Kauf, dass ein überlebenswichtiges Gerät unseres gesellschaftlichen Haushaltes wegbrechen wird, wenn wir die kaputten Teile nicht endlich durch funktionale ersetzen. Und wir sollten uns nichts vormachen, wenn wir über diese Probleme sprechen. Die Metapher der Gesellschaft als Waschmaschine mag putzig wirken. Aber die Covid-19-bedingten Einschränkungen haben uns ein Gefühl dessen verschafft, was im Alltag wirklich überlebenswichtig ist und was passiert, wenn überlebenswichtige Helfer wegbrechen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir selbst die Konstrukteure dieser Gesellschaftswaschmaschine sind. Wir sind dafür verantwortlich, sie der fortschrittlichen Generation einer modernen Gesellschaft anzupassen. Die überlebten Teile der Maschine sind endlich auszubauen. Schlicht, um das Überleben einer wertebasierten Gesellschaft zu sichern.

____________

David Marc Jagella, geb. 1999, studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Mit seinem Essay gewann er den Call for Papers für Kursbuch 203 ÜberLeben.

 

Anmerkungen

[i] Bundeskriminalamt: Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung – Berichtsjahr 2018, 25.11.2019, URL https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Partnerschaftsgewalt/Partnerschaftsgewalt_2018.html?nn=63476, sowie: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Häusliche Gewalt. Frauen vor Gewalt schützen, 21.02.2020, URL https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/haeusliche-gewalt/haeusliche-gewalt/80642.

[ii] European Union Agency for Fundamental Rights: Gewalt gegen Frauen: Eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick, 05.03.2014, URL https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-oct14_de.pdf.