Kursbuch 218 – Editorial

Eine der ersten und bis heute bekanntesten malerischen Naturdarstellungen ist der »Feldhase« von Albrecht Dürer, gemalt 1502, also vor mehr als 500 Jahren. Ich glaube, das Bild haben die meisten Menschen vor Augen. Das Besondere an dem berühmten Aquarell ist, dass es nur eine Darstellung eines Feldhasen ist – zuvor sind Tiere ausschließlich in mythologischen oder religiösen Kontexten gemalt worden. In diesem Fall genügt das Tier sich selbst. Es wird gewissermaßen eingerahmt (im wahrsten Wortsinn), dekontextualisiert. Es interessiert nur die Gestalt des Tieres in seiner natürlichen Erscheinung. Man bezeichnet dieses Bild, wie eingangs schon erwähnt, oft als eine der ersten Naturdarstellungen oder Naturstudien – und darin ist bereits die ganze Spannung des Natürlichen auf den Begriff gebracht: Es ist eine (künstliche) Darstellung des Natürlichen, in diesem Fall eines Tieres, das jeglichem symbolischen Sinnüberschuss entzogen wird. Nun kann man kunstgeschichtlich sagen, dass dieser Verzicht auf jeglichen Sinnüberschuss genau den Sinnüberschuss ausmacht, nämlich geradezu provokativ nur das Tier zu zeigen. Aber man sieht kein Tier, sondern nur das Bild eines Tieres. Und man sieht auch beim Anblick der Natur nicht die Natur, sondern nur das, was man sieht.

Der Natur kann sich letztlich nichts entziehen, auch nicht all das, was wir nicht zum Natürlichen im engeren Sinne rechnen. Und doch ist es immer nur eine Darstellung der Natur, ihr Bild, ihr kulturelles Verständnis, über das wir verhandeln können. Die heutige Darstellungsprovokation eines Feldhasen wäre dann wahrscheinlich nicht eine naturalistische (sic!) Abbildung, sondern der genetische Code dieser Spezies. Noch abstrakter – und vielleicht sogar in einem bestimmten Sinne noch näher an seiner Natur?

Um die Spannung zwischen dem Natürlichen und seiner (kulturellen, sozialen, historischen, praktischen, wissenschaftlichen, nachahmenden etc.) Darstellung und Darstellbarkeit kreisen die Beiträge dieses Kursbuchs »Von Natur aus«. Besonders sichtbar wird diese Darstellungsfrage in Jan Schwochows Grafiken, die einen der für alles Leben und seine Natur auf der Erde wichtigsten Prozesse darstellen: die Photosynthese, die mithilfe des Sonnenlichts entscheidende Hauptbausteine des Lebens ermöglicht: Glukose und Sauerstoff. Dürers Darstellung des Feldhasen von 1502 kann man naturalistisch nennen. Die grafische Darstellung der Photosynthese ist eine wissenschaftliche, in chemischen Formeln, aber auch in symbolischer Anschauung. Beide Grafiken zeigen dasselbe, aber in unterschiedlichen Abstraktionsgraden. Olaf Unverzarts kleine Risografie-Reise basiert auf der besonderen Art eines Siebdruckverfahrens, das aus Japan stammt. Die Bilder entstammen der Serie »Heat is on« und zeigen Nebenfolgen und Risiken globaler Naturzerstörung.

Die Essays dieses Kursbuchs variieren alle die Spannung zwischen Natur und kultureller/gesellschaftlicher (Darstellungs-)Praxis – und stoßen alle darauf, wie wenig trennscharf diese Unterscheidung ist. Das gilt für Jürgen Dollases Überlegungen über kulinarische Natürlichkeit, für Nicole Karafyllis’ Nachdenken über Biofakte, für Roman Kösters Müllreflexion sowie für Manuela Lenzens Analyse des Verhältnisses von KI-Sprachmodellen und natürlicher Sprache und für Wendy S. Parker über Natursimulationen, ebenso für meine Naturszenen. Und das Interview, das Peter Felixberger mit Eva von Redecker geführt hat, beschreibt Lebensformen als Stoffwechsel mit der Natur.

Die Intermezzi zum Heftthema stammen diesmal von Jan-Niclas Gesenhues, Christiane Grefe, Florian Heinen, Sven Murmann und Maren Urner. Sie thematisieren die Grenzen der Natur, die politischen Bedingungen für Naturschutz, menschliche Emotionen, Kindheit sowie das Phänomen der Landschaft, in dem sich die oben genannte Spannung besonders deutlich zeigt.

Und schließlich das inzwischen elfte »Islandtief«: Berit Glanz widmet sich diesmal der isländischen Esskultur – zwischen Food Halls, in denen unterschiedliche Fast-Food-Angebote unter einem Dach zusammengeführt werden, und einer New Nordic Cuisine.

Armin Nassehi, Kursbuch 218