Montagsblock /275

Oft ist es interessant, einfach mal zu schauen, was die Wissenschaftler so schreiben. Im Grunde fast egal, zu welchem Thema. Es wird ja zu Allem Forschung betrieben. Und gerade bei Themen, bei denen jeder schon meint, alles verstanden zu haben, kann es interessant sein, sich ein bisschen durch die Introductions und Conclusions zu lesen, einfach um ein paar neue Impulse zu bekommen.

Ich war vor einigen Tagen zum Beispiel mal wieder sehr frustriert davon, zu sehen, wie traditionsreiche und renommierte Nachrichtenhäuser zunehmend ihre Themenwahl nach Kriterien des zahlenbasierten Online-Journalismus ausrichten. Natürlich kenne ich das Problem aus dem eigenen Alltag. Der Erfolg von Artikeln lässt sich am leichtesten in der Zahl der deshalb abgeschlossenen Online-Abos messen. In Zeiten des kriselnden Journalismus ist das die naheliegendste Metrik. Und wenn man allein diese Metrik als Orientierung nimmt, kommt es beispielsweise dazu, dass in einem bestimmten engen Zeitraum überall relativ anlasslos über die Vor- und Nachteile von Hafermilch zu lesen ist, dass in Ressorts, die sich eigentlich mit ganz anderem beschäftigen, plötzlich prominent aber wenig evidenzbasiert Psychologiethemen präsentiert werden, und dass zahlreiche Social-Media-Hypes ihren Weg auf die Zeitungsseiten finden.

Dass es nicht grundsätzlich schlecht sein muss, wenn die Medienhäuser den Konsumenten und dessen Bedürfnisse und Vorlieben stärker in ihre Themenauswahl einfließen lassen, ist dabei offensichtlich. Die „Gatekeeping“-Funktion der Redaktionen, zu definieren was News ist und was nicht, in die Breite zu öffnen, ist grundsätzlich sehr zu begrüßen. Schwierig wird es aber dann, wenn die Tendenz in Richtung „Clickbaiting“ geht: Wenn Mechanismen, von denen angenommen wird, dass sie Leser psychologisch zum Lesen verleiten, gezielt genutzt werden, und wenn dann dabei auch noch mehr versprochen als gehalten wird. Und, um das hier gleich vorwegzunehmen: Ich bin in der überaus glücklichen Situation, selbst für eine Zeitung zu arbeiten, bei der solches Clickbaiting kulturell verpönt ist.

Jedenfalls habe ich meine Frustration zum Anlass genommen, ein bisschen in Studien zu diesem Thema zu lesen – und war überrascht, wie gemischt und uneindeutig die Frage nach dem Erfolg von Clickbaiting beantwortet wird. Eine amerikanische Studie von 2021 etwa testete den Effekt von Clickbaiting-Überschriften im Vergleich zu klassischen in Experimenten mit online rekrutierten Testpersonen und Studenten. Für Clickbait nutzten sie 7 Kategorien: Überschrift als Frage, als Liste („Die zehn besten Urlaubstipps“), mit einem W-Fragewort („Was dieses Video über die Flüchtlingskrise enthüllt“), mit einem Demonstrativpronomen („Das ist das Diätgeheimnis von Heide Klum“), mit positiven oder negativen Superlativen, oder Modalverben („Was jetzt getan werden sollte“).

Bei den durchgeführten Experimenten wurden zweimal die verschiedenen Kategorien von Überschriften bezüglich der erzielten Klicks und „Shares“ verglichen, das dritte Experiment basierte auf Realwelt-Daten. Ergebnis: „Insgesamt ergab sich eine Präferenz für Nicht-Clickbait“, weil diese Überschriften als ehrlicher und glaubwürdiger empfunden wurden. Vielleicht, so die Vermutung der Autoren, seien die Leser mittlerweile schon so weit, dass sie einen anderen Umgang mit Clickbait entwickelt hätten, als noch vor einigen Jahren. Und einen Ratschlag an die traditionellen Medienhäuser leiten die Wissenschaftler daraus auch ab: „Die Flucht ins Clickbaiting ist das Risiko des Vertrauensverlustes nicht wert.“ Allerdings weisen die Autoren auch darauf hin, wie schwierig die empirische Untersuchung dieses Themas ist. Schon allein, weil es alles andere als klar ist, wie Clickbait zu definieren ist – im konkreten Fall ihrer Studie stellt sich etwa die Frage, wie die Vollständigkeit ihrer Liste von Kategorien zu bewerten ist.

Dazu kommt eine große methodische Herausforderung in der Auswertung von Realwelt-Daten: „Als Data-Scientists sind wir uns sehr wohl bewusst, dass Realwelt-Daten zur Leserbindung voll von Störfaktoren sein können“, schreiben sie. Als Beispiel führen sie an, dass es gut sein kann, dass bestimmte Typen von Überschriften von den zuständigen Redakteuren bewusst oder unbewusst systematisch weiter oben auf der Homepage platziert wird, „so dass mehr Klicks zum Teil aufgrund der Platzierung statt allein aufgrund der Überschrift generiert werden.“

Der große Einfluss solcher Störfaktoren findet sich auch in anderen Studien bestätigt. Eine niederländisch-belgische Studie etwa hat sich 2018 dem Einfluss der Social-Media-Veröffentlichung von Zeitungsartikeln gewidmet. Das Ergebnis: Es macht einen durchaus großen Unterschied, ob die Veröffentlichung auf der Home-Page und in den sozialen Medien gleichzeitig oder mit einiger Verzögerung passiert. „Unser Ergebnis zeigt, dass Social-Media-Redakteure tatsächlich mächtige Gatekeeper sein können“. Wer hier entsprechend investiert, kann Artikel in ihrem Erfolg stärken oder schwächen, ohne dass das primär auf den Artikel selbst zurückzuführen wäre.

Zu große Zahlengläubigkeit bringt also die Gefahr der sich selbst erfüllenden Vorhersage mit sich: Wenn ein Artikel von vornherein als vielversprechend konzipiert wird (durch entsprechende Themenwahl und/oder Clickbait-techniken), wird er wahrscheinlich auf der Homepage höher platziert, vielleicht auch noch in den sozialen Medien gezielt beworben, und nährt mit seinem daraufhin erzielten Erfolg den Mythos, dass all das auf das schlaue Clickbaiting zurückzuführen ist.

Aber lohnt es sich überhaupt, die Frage nach dem Für und Wider des Clickbaitings zu stellen, solang Medienhäuser zumindest das Gefühl haben, dadurch ihren Fortbestand zu sichern? Natürlich. Eine kritische Reflexion ist aus mindestens zwei Gründen wichtig. Zum einen haben Journalisten in unserer Demokratie eine zentrale gesellschaftliche Rolle zu erfüllen, indem sie diejenigen Informationen zur Verfügung stellen, die mündige Bürger brauchen, um sich evidenzbasiert eine Meinung zu bilden und sich entsprechend politisch einzubringen. Das sind leider nicht immer die Informationen, die besonders breitenwirksam Klicks generieren. Zum anderen weisen wiederum Studien auf die wenig überraschende Tatsache hin, dass der beschleunigte hektisch-zahlengetriebene Journalismus weniger Quellen konsultiert und weniger gründlich recherchiert ist. Und der dritte Grund: Offenbar – wenn ich meiner kleinen Studienrecherche glauben darf – ist der Erfolg dieser Strategie weit weniger eindeutig als es die intuitive Auswertung der Klick- und Abozahlen nahelegt. Denn Zahlen sind oft trügerisch. Journalisten wissen das eigentlich.

Sibylle Anderl, Montagsblock /275

27. Mai 2024

Cohen, Nicole S. 2015. “From Pink Slips to Pink Slime: Transforming Media Labor in a Digital Age.” The Communication Review 18 (2): 98–122.

Welbers, Kasper et al. 2018. “Social media gatekeeping: An analysis of the gatekeeping influence of newspapers’ public Facebook pages” new media & society 20(12)

Molina, Maria D. et al. 2021. “Does Clickbait Actually Attract More Clicks? Three Clickbait Studies You Must Read.” CHI ’21, May 08-13, 2021, Yokohama Japan