MONTAGSBLOCK/ 93

Als Wissenschaftler schreibt man üblicherweise über Forschungsergebnisse – also nachdem Forschung stattgefunden hat. Es lohnt sich aber auch, vom Zeitpunkt vor der Forschung zu berichten, denn die wichtigsten Entscheidungen sind schon vor der Forschung gefallen. Man kann nur Antworten auf Fragen bekommen, die man auch gestellt hat. Das größte Problem von Forschung ist also gar nicht das Handwerkliche selbst – das sollten die Protagonisten mit der Zeit lernen können (auch wenn man das nicht immer voraussetzen kann). Das Entscheidende sind die Fragen, die man stellen sollte. Dafür sollte man eine Idee der Antwort haben. Damit ist nicht gemeint, dass man schon vorher die Ergebnisse kennen sollte, um die dazu passenden Fragen zu stellen. Wer so argumentiert, braucht keine Forschung. Nein, es geht darum, die Relation von Frage und Antwort zu reflektieren. Dafür muss man den Typus von Antwort kennen, den man sich imaginiert.

Wir, das sind die Soziologin Irmhild Saake und ich, haben bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Antrag auf Förderung eines Forschungsprojektes gestellt, der diese Woche endgültig bewilligt worden ist. Wir wollen in diesem Forschungsprojekt in den nächsten drei Jahren zu Flüchtlingen forschen. Der Titel des Projekts lautet: „Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge. Eine inklusionstheoretische Studie“. Was uns vorschwebt, ist eine Forschungsarbeit, die den unseligen Integrationsdiskurs über Migranten und Flüchtlinge aufbricht. Leider interessiert sich der (sozialwissenschaftliche) Integrationsdiskurs zumeist nur für zwei Dinge, die beide Antworten erzeugen, mit denen man wenig anfangen kann. Entweder man misst Integration daran, wie sehr sich Migrantinnen und Migranten nach einiger Zeit noch von der autochthonen Bevölkerung unterscheiden. Das erzeugt regelmäßig Enttäuschungen, denn die Differenz von migrantischen Personen und der autochthonen Bevölkerung verschwindet viel langsamer, als man es sich vorstellen kann. Außerdem wird die Varianz innerhalb der autochthonen Bevölkerung unterschätzt.

Oder aber man hält schon das Insistieren auf Anerkennung für Forschung. Man nennt das Anerkennungstheorie und will damit zeigen, dass es ein normatives Gebot ist, migrante Lebenslagen ebenso anzuerkennen wie andere und mögliche Differenzen möglichst für irrelevant zu erklären. Auch solche Perspektiven pflegen regelmäßig zu enttäuschen, weil in ihrer Frage schon die Unerfüllbarkeit angelegt ist, denn die explizite Anerkennungsaufforderung kann letztlich nur die Differenzen zu den Autochthonen stärken, weil man sie anerkennungstheoretisch weginterpretieren will. Und schon diese Rede von den „Differenzen“ wäre für eine solche Perspektive falsch, weil diese ja letztlich entweder als „Essentialisierung“ gescholten werden oder aber unsensibel dafür erscheinen, dass alle dasselbe Recht auf Anerkennung haben.

Ich gebe zu, ich überzeichne ein wenig, aber wirklich nur ein wenig. Hier wird schon deutlich, dass die Frage den Typus der Antwort generiert. Unsere Frage lautet anders: Wir wollen empirisch beobachten, wie Flüchtlinge, und nur auf diese Gruppe bezieht sich unsere geplante Forschung, auf die Gesellschaft treffen und wie diese Andockstellen aussehen und was dort geschieht. Integration ist nicht die Aufnahme in ein Gefäß, und Gesellschaften sind als Anerkennungsräume mindestens unterkomplex beschrieben. Wir stellen unsere Frage inklusionstheoretisch: Wir alle sind nicht in ein Gefäß integriert, sondern vielfach inkludiert: in den Arbeitsmarkt, als Staatsbürger, als Rechtssubjekt, als gläubige Menschen oder Nutzer und Adressaten von Medien, als Patienten, Schülerinnen und Schüler, Studierende, Arbeitnehmer usw. Diese unterschiedlichen Andockstellen sind nicht vorgängig vermittelt und koordiniert, geschweige denn organisiert. Sie sind eher lose gekoppelt – und das gilt auch für Flüchtlinge, deren Andockformen natürlich auf eine ganz besondere Weise prekär und tatsächlich anders sind. Genau das wollen wir untersuchen, empirisch, ohne vorgängige normative Vorstellungen darüber, wie eine gelungene Form aussieht.

Dazu suchen wir folgende Andockstellen auf, die für Flüchtlinge relevant sind: Wohnquartiere, Schulen/Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze, Arztpraxen, Ämter und auch das Theater, denn gerade hier wird ein besonderer Typus des Flüchtlings prämiert, der sprechende Flüchtling. Es wäre schön gewesen, auch „die Straße“ als solch einen Ort aufzusuchen, aber hier stellen sich methodische Probleme. Aber auch die genannten Andockstellen dürften einen Eindruck über die Empirie des Kontaktes zu dieser Gesellschaft ermöglichen.

Wir wollen wissen, was ist, nicht das Defizit im Hinblick auf ein mögliches Sollen beschreiben. Deshalb stellen wir eine solche inklusionstheoretische Frage – und erhoffen uns von dieser Frage mehr als eine Diagnose von Integrationsdefiziten und mehr als eine anerkennungstheoretische Defizitdiagnose.

Wir fragen anders – und wir werden andere Antworten erhalten. Das ist das Privileg von Wissenschaft: die eigenen Fragen methodisch kontrollieren zu können und sich vom Gegenstand zunächst zu distanzieren, um ihn verstehen zu können. Wer etwas wissen will, signalisiert, dass er oder sie auch etwas noch nicht weiß. Alles andere wäre postfaktisch und nonfaktisch.

Ich werde im Laufe der Zeit in diesem Montagsblock vom Fortgang dieser Forschung berichten, von der wir uns erhoffen, Konsequenzen im Hinblick auf realistische politische und andere operative Fragen ziehen zu können. Die Forschung selbst will zunächst nur wissen, was ist.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK/ 93,  21.10.2019