MONTAGSBLOCK/ 92

Das politische Führungspersonal wirbelt gerade weltweit unterschiedliche Staubschichten auf. Die einen, wie Trump und Johnson, versuchen, ihre Haut zu retten, und inszenieren polternde, emotional aufgeladene Ablenkungsscharmützel. Die anderen, wie Merkel und Macron, versuchen, ihre Haut stärker feilzubieten, und sich in der internationalen Öffentlichkeit volkssouveräner zu präsentieren. Klar, ihre PR-Strategen regieren mit. Wenn man jedoch hinter die blanke Kommunikationsperformance blickt, wird es grundsätzlicher. Dabei stellt sich gestern wie heute die Frage, welche Kunst des Regierens trotz bizarrer Performanceshows überhaupt noch zeitgemäß erscheint?

Michel Foucault hat sich damit vor über 40 Jahren in seinen berühmten Vorlesungen beschäftigt. Und eine Metapher gefunden. Ein Schiff lenken heißt, so der französische Soziologe und Philosoph, „Verantwortung zu übernehmen für die Seeleute, aber es heißt zugleich auch, Verantwortung zu übernehmen für das Schiff und für die Ladung; ein Schiff zu lenken heißt auch, auf die Winde und die Klippen, die Stürme und die Flauten zu achten; es bedeutet, einen Zusammenhang herstellen zwischen den Seeleuten, die man am Leben erhalten, dem Schiff, das man bewahren, und der Ladung, die man in den Hafen bringen muss, und deren Beziehungen wiederum zu all jenen Ereignissen wie den Winden, den Klippen und den Unwettern; dieser hergestellte Zusammenhang charakterisiert die Lenkung (gouvernement) eines Schiffes.“

Wow: Verantwortung, Achtsamkeit, Schutzgarantie und die ganze Welt im Blick? Fast ist man geneigt, für alle Regierenden und Politführer ob dieser überbordenden Fülle spontan Mitleid zu empfinden. Denn wer kann heute alles gleichzeitig im Blick haben? Reichtum, Glück, Überleben und Sicherheit aller Bürger? Das riecht nach krasser Überforderung. Vergleichbar dem mittelalterlichen Bild eines Familienvaters, der als Erster aufsteht, als Letzter zu Bett geht und im Dienste der Familie über allem wacht.

Fragt sich nur, ob dieses Führungsverständnis heute noch zeitgemäß ist oder wer überhaupt noch von übermächtigen Familienvätern und Schiffslenkern regiert werden will? Wir sehen bereits: Die Komplexität des Regierens benötigt einerseits von ihren Führern eine profunde Allmachtsüberzeugung und vor allen Dingen ein grenzenloses Selbstbewusstsein sowie eine klare Selbstbewusstheit. Andererseits braucht man ein Volk, das sich in diesem Sinne regieren lässt und politisch nicht zu sehr auf Selbstorganisation und ausdifferenzierte Machtverteilung Wert legt. Was allerdings – das wirft uns jetzt ein bisschen zurück – unsere heutige demokratische Grundauffassung ist. Denn Demokratie bedeutet, dass das Volk selber herrscht. Dieses Paradoxon der Demokratie hat Niklas Luhmann übrigens das „Sich-selbst-zugleich-Befehlen-und-Gehorchen“ genannt.

Es ist zwingend, dass politische Führer in der täglichen Regierungspraxis hin- und hergerissen werden. Zwischen Schiffslenker und Demokratiediener. Zwischen Familienvater und Familienmitglied. Zwischen Grausel und Zausel. Das muss kein Widerspruch sein, sondern ist eher ein alltäglicher Managementauftrag, beides auszuhalten und nicht eines als letzte Wahrheit festzulegen. Denn wer politisch führt, interpretiert die Kunst des Regierens als offenen und nicht entscheidbaren Umgang mit dem Demokratie-Paradoxon. Ansonsten, wie man hinter den derzeitigen Staubwirbeln sehen kann, drehen sie durch (mit Allmachtsattitüden wie Trump, Erdogan & Co.) oder sie drehen ab (mit Wahlanbiederungsattitüden wie Macron, Merkel & Co.). Wir blocken heute: Neues Führungspersonal gesucht!

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK/ 92,  07.10.2019