Es lohnt sich, Texte wieder hervorzukramen, die lange eher unsichtbar waren, zumindest für mich. Dieser zum Beispiel: „Puerilismus wollen wir die Haltung einer Gemeinschaft nennen, die sich unmündiger verhält, als es auf dem Stand ihres Unterscheidungsvermögens möglich wäre, eine, die statt Knaben zu Männern zu erziehen, ihr eigenes Verhalten dem des Knabenalters anpasst.“* Dieser Satz stammt von dem niederländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga, der an der modernen Kultur eine Tendenz zur Oberflächlichkeit ausmacht, die er explizit nicht der Kultur per se zuschreibt, aber einer Haltung, die die eigenen Möglichkeiten unterschreitet. Es ist keine generelle Kulturkritik, wenn auch sein Werk durchaus gewisse kulturaristokratische Züge trägt. Es ist vor allem eine Kritik der Unwilligkeit der Selbstdistanzierung. Huizinga grenzt sich übrigens explizit von der psychoanalytisch „Infantilismus“ genannten Entwicklungsstörung ab und zielt direkt auf die Differenz zwischen einem Verhalten, einer Haltung, wie er sagt, und den vorhandenen Potentialen. Es ist eine Diagnose selbstgewählter Unterschreitung von Möglichkeiten, keine psychopathologische Diagnose.
Huizinga, Autor des wunderbaren Buches Homo Ludens,** ist kein Kritiker des Spiels und der „knabenhaften“ Freude an ausgelassener Unmittelbarkeit, wie man das Spiel charakterisieren könnte. Er ist ein Kritiker einer Kultur, die nichts anderes mehr kennt, die das Spiel nicht vom Ernst, die Ausgelassenheit nicht vom Argument und die Unmittelbarkeit nicht von der Distanzierung unterscheiden kann. Darin ist Huizinga, der 1945 starb, ein wirklich aktueller Autor. Huizinga geht es darum, den vor allem inszenatorischen Charakter von Inszenierungen aufzudecken, darin aber gar nicht das Inszenatorische im kritischen Blick habend, sondern die Verwechslung der Inszenierung mit der Sache selbst. Er schreibt etwa: „Denken wir nebenbei auch an den Geist der Aufmärsche und der uniformierten Meinungen, der sich die Welt untertan gemacht hat. Man mobilisiert eigene Hunderttausende; kein öffentlicher Platz ist groß genug, eine Nation steht, Zinnsoldaten gleich, in Reih und Glied, in einer Pose. Nicht einmal der Zuschauer entgeht der Suggestion, das hier Gebotene müsse Größe, müsse Macht sein. – Dabei ist es bloß kindisch.“*** Im Blick hatte Huizinga natürlich die zeitgemäße Form der Aufmärsche, der theatralen Inszenierung von Stärke, der militärischen Gleichförmigkeit, der ostentativen Potenz – die er allesamt für letztlich impotent hielt. Er kaprizierte sich dabei auf die Form der totalen Unmittelbarkeit, die den Inhalt dann folgen lässt. Kindliche Inszenierungen sind dann auch nur zu kindlichem Denken in der Lage – und die Adressaten wussten schon, dass sie an der Stelle getroffen werden, wo es ihnen weh tut, und das sind nicht die Inhalte selbst. Nicht umsonst erhielt Huizinga ein Publikationsverbot im nationalsozialistischen Deutschland und wurde von der Reichsschrifttumskammer auf der Liste der schädlichen Autoren geführt.
Es lohnt sich, Huizingas Hinweis auf den „Puerilismus“ einer Relektüre zu unterziehen, auch weil physische und kommunikative Formen solcher Inszenierungen inzwischen viel subtilere Formen angenommen haben. Denn jene totale Unmittelbarkeit ist es, die auch die gegenwärtige Form von Debatten und öffentlichen Diskursen prägt, die eine Form des Unernstes erreicht haben, der schaudern lässt. Nehmen wir nur die Diskussion über die Atlantiküberquerung der Klimawandelikone Thunberg. Wenn nun vorgerechnet wird, dass die Überquerung mit jenem hochgezüchteten Rennboot am Ende mehr Transatlantikflüge (des technischen Begleitpersonals) erzeugen wird, als wenn die Protagonistin schlicht ein Flugzeug bestiegen hätte, wenn weiters vorgerechnet wird, dass die mediale Aufmerksamkeit, das Entsenden von Kamerateams und Journalisten, der ganze Tross um diese Inszenierung herum mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen haben wird, als wenn man wie wir alle schlicht einen Flug bucht, möglichst direkt, um auf zu viele Starts verzichten zu können, dann stellt man fest: die Kritik stimmt. Welche Antinomie, welche Entlarvung, was für ein Fake! – will man ausrufen und sollte doch eher still bleiben. Denn der so archaisch anmutenden Inszenierung, sich den Gewalten des Meeres mit High-Tech entgegenzustemmen, der Gefahr der Magenentleerung stets ins Auge blickend, wird die Inszenierung entgegengehalten, davon überrascht zu sein, dass die Dinge nicht so sind, wie sie in der kindlichen Erzählung des ganzen Geschehens erscheinen. Die Aufdeckung dieser Kindlichkeit nimmt es an Kindlichkeit mit dem Kritisierten wirklich auf.
Mir geht es nicht darum, ob Greta Thunberg mit ihrer Reise wirklich Kohlendioxidausstoß einspart oder vermeidet oder ob Klimakonferenzen durch die Anfahrtswege klimaschädlich sind oder ob es sinnvoll ist, solche Konferenzen mit Privatjets aufzusuchen. Das ist letztlich auch völlig irrelevant, ein Ersatzdiskurs für Kinder. Mir geht es darum, dass die nun errechneten mindestens sechs Atlantikflüge (wahrscheinlich konservativ gerechnet), die die ganze Sache erzeugt, auf eine kindliche Idee des Paradieses hinweisen. Wundern sich diejenigen, die die Sache aufdecken, wirklich darüber? Was ist der Erkenntniswert der Investigation? Was für eine Welt authentischer Akteure stellen sie sich vor?
All die heißen Themen der Zeit spielen in ihrer öffentlichen Inszenierung auch mit dem Motiv, wie denn eine heile Welt ohne Widersprüche aussehen würde, gewissermaßen eine Welt vor der Vertreibung aus dem Paradies. Es wäre eine, in der Äußerung und Geäußertes, Sagen und Meinen, Intention und Rezeption, Wollen und Können, Inneres und Äußeres, Bedeutung und Interpretation, Sein und Schein, Signifikat und Signifikant in Deckung zu bringen sind. Es geht um vollständige Authentizität und Widerspruchslosigkeit. Es geht um die ganze Welt. Es geht darum, was Huizinga letztlich die Leugnung von Unterscheidungsvermögen nennt. Es wäre die autoritärste Welt, die man sich vorstellen kann, weil sie keine Abweichung vertragen kann.
Die Vertreibung aus dem Paradies und das Erwachsenwerden ähneln sich darin, dass nun Widersprüche, Inkonsistenzen, man könnte sagen: der imperfekte Zustand der Welt sichtbar wird. Imperfekt ist das postparadiesische Zeitalter (also dasjenige, das nach dem Genesis-Mythos unmittelbar nach der logischen Sekunde der Schöpfung begann) schon darin, dass sie der Selbstdistanzierung, des Unterscheidungsvermögens und der Unvollständigkeit jeder Weltbeschreibung gewahr wird. Imperfekt ist das postparadiesische Zeitalter vor allem darin, dass die Gesellschaft offensichtlich in sich widersprüchlich, unvollständig und unerlöst erscheint, sobald man so hinsieht und nicht anders. Jede Beobachtung ist ungerecht, weil man auch anders beobachten könnte – und muss.
Vielleicht erhitzen sich Debatten gerade deshalb derzeit so sehr an den Fragen, an denen man das Unmittelbare zu retten versucht: die Rechten das Eigene, die Linken die universalistische Unverletzlichkeit, die Kritiker der Sprache die Unmittelbarkeit von Zeichen und Bezeichnetem mit dem Ziel der vollständigen Repräsentation aller Mitgemeintseinkönnenden. Auch die Form der eschatologischen Problembeschreibung zehrt von solcher Unmittelbarkeit. Wo sich im Konkreten das Ganze niemals repräsentieren lässt, vermittelt eine endzeitliche Perspektive aufs Ganze tatsächlich eine integrative Kraft, die alles in sich hineinziehen kann. Dass es dabei um etwas geht, um etwas anderes als unbedeutende Inszenierungen, bleibt dann unsichtbar.
Wäre man Verschwörungstheoretiker, würde man sagen: Das wird extra so inszeniert, damit man die konkreten Fragen nicht stellen muss. Das allerdings wäre selbst eine sehr kindliche Vorstellung davon, dass die Heilung der Welt am Ende doch von den Eltern/den Herrschenden/den Mächtigen etc. bewerkstelligt werden könnte, wenn sie denn nur wollten. Kritik hat oft etwas Subalternes.
Nein, ich komme nicht wieder mit Komplexität und Perspektivendifferenz, mit den Betriebsbedingungen der Gesellschaft und der imperfekten (weil niemals fertigen) Form operativer Gegenwarten. Ich komme an diesem Montag mit Johan Huizinga, der ebenso lapidar wie radikal auf die Differenz von kindlichem Verhalten und anderen Möglichkeiten unserer Kultur verweist. Die Dinge verhalten sich anders, als es auf den ersten Blick erscheint. Sie haben latente Bedingungen, und Zeichen und Bezeichnetes fallen kategorial auseinander. Das sind die Betriebsbedingungen sozial- und kulturwissenschaftlicher Denkungsarten (wenn es gut läuft, was nicht immer vorausgesetzt werden kann). Aber das Potential ist da. Damit müsste man spielen, könnte man von Huizinga lernen, nicht kindlich, sondern in dem Sinne, im Spiel zu sehen, was passiert, wenn man die Dinge neu ordnet, ohne sie festzuzurren, wie er eben sagt: die Möglichkeiten des Unterscheidungsgebrauchs nutzbar zu machen.
Ach, zum Ende noch: Heute würde man nicht mehr „Puerilismus“ schreiben, nicht mehr nur von Knaben und Männern, müsste auf Infantilismus ausweichen, weil „Puellilismus“ auch nicht ginge. Aber Infantilismus ist bereits anders besetzt. Also, was tun? Wenigstens verweist das auf das Problem des Unterscheidungsgebrauchs. Es wäre ein Anfang, ein spielerischer. Kindlich wird er erst, wenn man die Inszenierung mit der Sache verwechselt. Genau, Kindlichkeit, das wäre die Alternative, also die begriffliche.
* Johan Huizinga: Puerilismus, in: ders.: Kultur- und zeitkritische Schriften, München: Fink 2019 (zuerst 1935), S. 93.
** Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek: Rowohlt 2009 (zuerst 1939).
*** Puerilismus, S. 94.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /89, 19.08.19