MONTAGSBLOCK /90

Neulich in Porto. Schon am Vormittag bildet sich vor der Livraria Lello eine lange Schlange von Menschen, die einen der weltweit schönsten Buchläden besuchen wollen. Vor allem die geschwungene Holztreppe hinauf in den oberen Verkaufsraum ist längst Legende. Um hineinzukommen, muss man jedoch vorab einen 5-Euro-Gutschein kaufen. Hoppla, denke ich mir, man bezahlt fünf Euro, um eine Buchhandlung von innen betrachten zu können? Hinzu kommt die Absperrung vor der Eingangstür, nur kontingentweise werden die Leute hineingelassen. Instagram-People on tour. Mit Millionen von Schnappschüssen jährlich.

Die Rettung des Buchhandels?, schießt es mir plötzlich in den Kopf. Die Buchhandlung als Museum? Eine Chinesin verlässt lächelnd das Geschäft. „Awesome, wonderful, incredible“, lächelt sie. Ein Buch hat sie natürlich nicht gekauft. Womit wir in der eigentlichen Höhle des Löwen angekommen sind. Wie sieht die Zukunft des Buchhandels aus? Der Buchladen als Museumspose? Voucher statt Literatur?

Ein Tagtraum. Ein junger Portugiese steht plötzlich vor der Eingangstür. Er will tatsächlich ein Buch kaufen. „Bitte hinten anstellen“, antwortet ihm die Portiersfrau freundlich. Die Schlange hat mittlerweile eine Länge von zirka 80 Metern erreicht. Wie ein Lauffeuer breitet sich die Nachricht aus. Der Mann da vorne will ein Buch kaufen. Ein Raunen geht durch die Menge. Handys und Fotoapparate werden gezückt. Der Mann draußen ist fast so originell wie die Holztreppe drinnen. Weitere Ideen fluten mein Gehirn. Warum nicht künftig einige Schauspieler als Attraktion anstellen? Sie können Buchkäufe imitieren oder als Animateure den Besuchern die Zeit vertreiben. Zudem könnte man KI-Roboter auf erhöhten Stühlen in den Raum stellen. Und demonstrieren lassen, wie Lesen funktioniert, überdies könnten sie Auskunft geben über alles Mögliche bis hin zu Kurzvorträgen über florentinische Tuchscherer oder Pop-Literatinnen der Gegenwart.

„Ich ließ das Sandwich liegen, trat neben ihn und hielt neugierig meine Hand vor seinen Mund. Der Atem fühlte sich warm und feucht an“, beschreibt Ian McEwan in seinem neuesten Roman den ersten Kontakt mit dem KI-Roboter.

Vor der Livraria Lello steht plötzlich eine Reihe von KI-Robotern. In Sekundenschnelle werden sie auf die Bedürfnisse des Besuchers eingestellt und vorprogrammiert. Während man in der Schlange wartet, füttert man eine spezielle Software mit seinen Interessen. Am Eingang hakt sich dann der KI-Begleiter ein. Schminktipps für junge Chinesinnen, neue Wanderwege in der Walachei oder aktuelle Trends russischer Widerstandslyrik? Wie Sie wünschen, was Sie wollen! Mit Voucher und 15 Minuten KI-Begleitung heute sogar als Sonderangebot für 25 Euro. Vorkasse natürlich. In der Sonne blitzt der KI-Roboter wie ein geputzter Spiegel.

„Hier stellt sich tatsächlich eine Intelligenzfrage in dem Sinne, dass der technischen Anwendung selbstverständlich keine umfassende oder menschliche Intelligenz unterstellt wird, aber doch ein Handlungskonzept, das Folgen für kommunikative Prozesse hat“, schreibt Armin Nassehi in seinem neuesten Buch über lernende Technik.

In der Livraria Lello herrscht mittlerweile ein munteres kommunikatives Treiben. Kurze KI-Mensch-Gespräche. Lachen, Reden, Gestikulieren, Innehalten, Nachdenken – alles verdichtet sich in einer Viertelstunde zu einem konzentrierten Miteinander aus Mensch und Maschine. Die Überwachungskameras in den Augenwinkeln der KI-Roboter machen menschliche Verkäufer sowieso überflüssig, was wiederum Kosten spart und die Gewinne wachsen lässt. Nur Gewinner auf allen Seiten? Buchhändler, die endlich überleben? Kunden, die mehr erleben? KI-Roboter, die kurz aufleben?

„Eine Unverschämtheit“, sagt plötzlich der junge portugiesische Buchkäufer. Keine Chance! Die Livraria Lello ist heute ein musealer Budenzauber. Und so endet abrupt die Geschichte von einem Mann, der an einem sonnigen Samstagvormittag ein Buch in einer Buchhandlung in Porto kaufen wollte. Beobachtet von einem Tagträumer, der gedanklich ein wenig Mensch-Maschine spielt. „Derzeit 50 Minuten Wartezeit“, lächelt das Wachpersonal. Back to reality!

 

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK /90, 09.09.19