MONTAGSBLOCK /9

„Welt verändern“ ist das Thema von Kursbuch 187. Meine erste Assoziation zum Thema war, wenig überraschend, der berühmte Satz aus der 11. Feuerbachthese: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Dieser vielleicht berühmteste Satz von Karl Marx scheint wenig Probleme zu bereiten, arbeitet er doch mit einer deutlichen und klaren Unterscheidung: interpretieren/verändern – das impliziert so etwas wie die Differenz von Schreibtisch/wirkliche Welt oder Reden/Handeln. Diese These ist so suggestiv und einsichtig, dass sie sogar als ausstellbare Corporate Identity einer Universität taugt – siehe die Inschrift im Hauptfoyer der Berliner Humboldt-Universität, Unter den Linden 6.

Sieht man aber genauer hin, implodiert diese Unterscheidung Interpretieren/Verändern, denn dass die Welt veränderbar ist, ist eine sehr starke Interpretation, man möchte sagen: typischer Ausdruck eines Philosophen, dessen Interpretation der Welt besagt, dass man die Welt nicht nur verändern müsse, sondern auch könne. Man muss das nicht gleich für einen Kategorienfehler halten, um die Widersprüchlichkeit des Satzes zu bemerken – denn dieser Satz mit der besagten Unterscheidung ist eine akademische Interpretation, deren Gehalt darin besteht, sich die Welt wie ein Objekt vorstellen zu können, das ein Subjekt verändern kann.

Dass das womöglich als Interpretation nicht ausreicht, lässt sich an Marxens eigener Interpretation der Welt ablesen. Im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals schrieb Marx am 25. Juli 1867 in London, es sei „der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen“, und zwar ein Bewegungsgesetz, das mit quasi-natürlicher Notwendigkeit sich entfalte und dem man im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung allenfalls so begegnen könne, „die Geburtswehen abkürzen und mildern“ zu helfen. Das Bewegungsgesetz selbst sei von eherner Selbständigkeit, getrieben durch eine ihm eingeschriebene Bewegungsrichtung in der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsmittel, welche die Produktionsverhältnisse umwälzen.

Darin ist die ganze Spannung des Themas „Welt verändern“ entfaltet. Es kommt in der Tat darauf an, sie zu verändern, freilich während sie sich selbst verändert. Dass das besagte Bewegungsgesetz eher ein geschichtsphilosophischer Irrtum ist, sei dahingestellt – aber dass das Verändern der Welt sich in einer sich selbst verändernden Welt geschieht, gilt nach wie vor – und wer sich damit beschäftigt, wie „Welt verändern“ geschieht, stößt darauf, dass sich klare Subjekt-Objekt-Verhältnisse auflösen. Ist die aktive Veränderungsmöglichkeit nur ein Ausdruck veränderter Konstellationen, in denen wir Veränderungen stets konkreten Handlungen zurechnen? Oder kann man umgekehrt womöglich jenes Schicksal beeinflussen, dessen Schicksalhaftigkeit gerade darin liegt, sich aktivem Zugriff zu entziehen? Ist es womöglich eine Frage der Klugheit? Geschickter Umgang mit einem Geschick?

Meistens ist es eine Nummer kleiner. Die Welt ist keine Adresse, sie verändert sich. Vielleicht ist die moderne Gesellschaft gerade deshalb so sehr von „Organisationen“ abhängig – Unternehmen und staatlichen Organisationen, Universitäten, Schulen, Krankenhäusern, Kirchen, Verlagen, Militär, Terrororganisationen, Vereinen usw. Sie legen Routinen fest und machen Handlungsketten erwartbar und ermöglichen Arbeitsteilung. Und weil man etwas festgelegt hat, kann man sie auch verändern. Ob sich damit dann etwas verändert, ist eine andere Frage – oder verändert es sich, statt dass die Veränderung eintritt, die man erwartet hat?

Es hätte ein so einfaches Thema sein können, das „Welt verändern“ – schon weil diejenigen, die sich dies auf die Fahnen geschrieben haben, meist die bessere Presse haben – übrigens zumindest in der Moderne immer schon. Das hat sich nicht verändert.

Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /9, 20. Juni 2016

Das Kursbuch 187 erscheint am 02. September 2016.
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