MONTAGSBLOCK /87

In diesen Tagen ist Redaktionsschluss für das Kursbuch 199 Unglaubliche Intelligenzen. Wir haben viel über Intelligenz nachgedacht, sie aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und mit überraschenden Sichtachsen – wie sich das für ein Kursbuch gehört. Das ist Gelegenheit genug, jetzt die andere Seite der Intelligenz zu beleuchten. Wovon unterscheidet sich Intelligenz? Das ist gar nicht so einfach zu sagen, denn das Konstrukt Intelligenz ist selbst ein unterscheidendes Konstrukt. Es vergleicht höhere von niedriger Intelligenz – und der Intelligenzquotient ist ein Vergleichsmaß, das sich am statistischen Modell der Normalverteilung orientiert. Aber wovon unterscheidet sich Intelligenz, was ist der Gegenbegriff? Es ist die Dummheit. Dummheit wird nicht im Sinne eines Quotienten gemessen – und niedrige Intelligenz ist womöglich nicht dasselbe wie Dummheit, wie womöglich hohe Intelligenz nicht vor Dummheit schützt.

Was aber wäre dann der Gegenbegriff von Dummheit? Wovon unterscheiden wir Dummheit? Die vielleicht bekannteste Bestimmung von Dummheit stammt von Immanuel Kant, der in ihr fehlende Urteilskraft sah, also, sehr vereinfacht ausgedrückt, die Unfähigkeit, das, was ist, mit dem, was sein soll, zu verknüpfen. Urteilskraft ist für Kant die Vermittlungsinstanz zwischen reiner oder theoretischer und praktischer Vernunft, gewissermaßen die Vermittlung zwischen konkreten Situationen und der Allgemeinheit des Denkens. Urteilskraft wäre die Fähigkeit, in der Situation das Angemessene zu tun, ohne sich nur von der Situation leiten zu lassen. Dummheit wäre die Unfähigkeit, exakt das zu tun.

Nehmen wir einmal an, Dummheit so modellieren zu können, dann wäre sie etwas anderes als Bullshit – wir haben über Bullshit-Sprech bereits ein ganzes Kursbuch gemacht, Nr. 191. Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat in einem kleinen Essay Bullshit lapidar so charakterisiert: Es gehöre zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur, dass es viel Bullshit gebe. Wir wüssten zwar nicht genau, was das ist, aber jeder kenne es. Frankfurts Analyse selbst changiert zwischen Bullshit, der einfach anfällt, und Bullshit, der bewusst eingesetzt wird. Gemeinsam ist beiden Perspektiven nach Frankfurt, dass sich Bullshit-Sprech nicht darum schert, ob die Dinge der Wahrheit entsprechen. Das ist das eigentliche Charakteristikum. Dem Bullshitter ist sein Bullshit egal, Hauptsache, er kommt damit durch.

Die letztere Wendung ist das Entscheidende. Der Bullshitter weiß oft, dass er Bullshit redet, es kommt ihm darauf an, damit durchzukommen. Bullshit schert sich nicht um Wahrheitsfragen, schert sich nicht um die Inhalte dessen, was da gesagt wird. Es geht ihm ausschließlich um den performativen Gehalt und die performative Wirkung von Bullshit. Um mit Bullshit durchzukommen, muss man womöglich sehr intelligent sein, denn zur Intelligenz gehört das Unterscheidungsvermögen, gehört Selbstbeobachtung, gehört ein gewisses Maß an Reflexivität, es gehört dazu die Fähigkeit, die eigene Position im Lichte anderer zu betrachten. Dem Bullshitter kann das nur egal sein, wenn er um diese Differenzen weiß, wenn er diese Fähigkeit zur Selbstreferenz einkalkuliert. Das gilt auch für die gemeine Bullshitterin, um keine Zweifel aufkommen zu lassen.

Im Vergleich zum Dummen ist der Bullshitter eine Geistesgröße. Der Dumme ist dumm deshalb, weil er um jeden Preis glaubt, was er sagt. Der Dumme ist gewissermaßen die fleischgewordene Beobachtung erster Ordnung. Er sieht nicht, dass er beobachtet, sondern er sieht, wie die Dinge wirklich sind. Er ist leicht glücklich zu machen, weil er den Zweifel unterdrücken kann.

Beobachtung erster Ordnung meint: Man hat eine Unterscheidung – schwarz/weiß zum Beispiel – und sieht dann nur Schwarzes und Weißes. Die ganze Welt gerinnt in dieser Unterscheidung. Nichts anderes kommt vor – und alles, was vorkommt, kommt nur innerhalb dieser Unterscheidung vor. Das ist dumm. Die Dummheit sinkt schon, wenn man sehen kann, dass man auch anders unterscheiden könnte – hell/dunkel, richtig/falsch, gut/böse, kalt/warm, genau/ungenau, Trottel/Nichttrottel usw. –, und noch mehr sinkt sie, wenn man sehen kann, dass die eigene Position sich ändert, wenn man anders unterscheidet. Man kann dann immer noch Bullshitter bleiben, aber nicht unbedingt dumm.

Warum erzähle ich so etwas am Montagmorgen? Die anderen für Bullshitter zu halten, ist manchmal eine starke Verharmlosung, weil das ja voraussetzt, dass da ein Unterscheidungsvermögen vorliegt, das man entsprechend verwenden kann, um etwa damit durchzukommen. Mit der Dummheit anderer zu rechnen zum Beispiel, ist eine echte Fähigkeit. Die Rattenfänger sind meist keine Ratten. Mit den Bullshittern kann man womöglich umgehen, weil man sie entlarven kann, weil man ihnen ihre eigene Strategie aufzeigen kann, weil man sie über ihre eigenen Unzulänglichkeiten stolpern lassen kann. Die Dummen dagegen sind nicht wirklich erreichbar. Sie wissen immer schon, worum es geht.

Exakt deshalb ist die Dummheit auch so kompatibel mit dem Ressentiment. Das Ressentiment weiß immer schon um die niedere Qualität seines Gegenstandes. Es kann deshalb oftmals nicht einmal durch Toleranz eingeholt werden, weil die Toleranz immer schon die mindere Qualität des anderen voraussetzt – sonst müsste man es nicht tolerieren (in sinnfälliger Abwandlung des Agnus Dei: qui toleras peccata et stultitias mundi). Das Ressentiment ist die Inkarnation der Beobachtung erster Ordnung. Es lässt sich auch wider bessere Anschauung nicht verunsichern. Es muss sich seiner absolut sicher sein, um in einer Welt mit Grauschattierungen und anderen Unterscheidungen auch wirklich sicher bleiben zu können. Um das zu schaffen, muss man dumm sein.

Das Dumme ist weder an weltanschauliche noch an politische, weder an inhaltliche noch ästhetische Kriterien und Vorlieben gebunden. Es ist weder links noch rechts, weder gebildet noch ungebildet, weder christlich noch muslimisch, weder schön noch hässlich. Es ist eben nur dumm. Es kommt als Ressentiment und Idee der Eindeutigkeit überall vor. Es weiß immer schon, was richtig ist. Der Dumme weiß alles. Die Dumme weiß auch alles. Dass es den Klimawandel nicht gibt wie auch, dass jegliche Kritik an Migration und ihren Folgen rassistisch sei. Dass das Denken in Genderkategorien per se gaga sei und es ausreicht, den Kapitalismus zu adressieren, wenn man alles erklären will und nichts mehr erklären kann. Dass jemand, der über autoritäre Herrschaft forschen will, selbst autoritär sei, wie auch, dass die Menschen nur Exemplare von Gattungsgruppen sind.

Grau ist alle Theorie, deshalb hier ein kleines praktisches Beispiel. Man sehe sich die Kolumne „Blackbox“ von Stephan Paetow auf der Website eines politischen Magazins an, das nach seinem Betreiber benannt ist, der übrigens selbst ein gekonnter Bullshitter ist, alles andere als dumm – im Gegenteil einer, der mit dem durchkommt, was er macht, und das auf hohem Niveau. Dazu gehört freilich, das Dumme zu instrumentalisieren, was sich an dieser Kolumne schön nachverfolgen lässt. Es geht hier nicht um die Inhalte der Kolumne, hier ist es die Nummer 29, auch nicht um den Autor, der durchaus journalistische Karriere gemacht hat, ohne dass man freilich bis dato Maßgebliches von ihm hätte lesen können. Aber das Schicksal teilen wir ja irgendwie alle.

Interessanter ist das Konstruktionsprinzip des Schreibens. Ein Schreiben, das exakt weiß, was die Dinge bedeuten, nicht angekränkelt durch irgendeinen Zweifel, in der Süffisanz des Tons Beifall heischend, im unbegründeten Urteil klar und deutlich, in der Bezeichnung der handelnden Personen klar Stellung beziehend. Es soll witzig wirken, ist aber verkrampft, und doch sieht man einen glücklichen Autor, der sich nicht verstellen muss. Der Bullshitter muss sich womöglich verstellen. Dieser hier muss nicht einmal das. Wer sich dumm stellen muss, ist es nicht. Wer es ist, braucht es nicht.

Zu aller Vorsicht: Das Beispiel bringe ich nur, weil es so frappierend ist als Typus, als didaktisches Material, als Gattung. Die Inhalte sind egal, sie sind ebenso unmaßgeblich wie unbedeutend – es ist die Form, die Gefolgschaft erzeugt. Es gibt sie genauso auf der anderen Seite des Spektrums, man wage nur einen kurzen Blick in die sozialen Netzwerke. Das Traurige an der Sache ist, dass diese Form kommunikativ kaum erreichbar ist. Vielleicht muss man, ganz so wie Per Leo, Maximilan Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn die Idee „Mit Rechten reden“* eben nicht als Aufforderung verstehen, sondern als Anleitung dafür, sich die Diskurspositionen anzusehen, die Frage: „Mit Dummen reden?“ verfolgen. Ich glaube fast, dass das die noch größere Herausforderung wäre. Die Schnittmenge freilich ist nicht gering. Es ist aber nur eine Schnittmenge, kein Abbild.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /87, 22 . Juli 2019

* Per Leo, Maximilan Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn: Mit Rechten reden. Stuttgart 2017.