Wir bereiten gerade das Kursbuch 199 vor, das sich mit Intelligenz, genauer mit Intelligenzen beschäftigt. Es könnte ein sehr konventionelles Thema sein, und die üblichen verdächtigen Themen liegen auf der Hand. Natürlich muss man darüber nachdenken, was wir Intelligenz nennen, was eigentlich ihr Gegenteil ist, wie man sie misst, ob es verschiedene Intelligenzen gibt. Natürlich denken wir an die Künstliche Intelligenz, die unter anderem schon begrifflich dazu führt, die nicht an technische Rechenapparate gebundenen intelligenten Algorithmen natürlich zu nennen, die selbst dann wiederum mindestens zwei Quellen haben können: die genetisch vererbte Natur und die sozial erlernte Natur (Natur dann verstanden als das Herkommen), bekannt als die berühmte Nature-vs.-Nurture-Frage. Überall sind Untiefen. Wenn man sich an den konkreten Wortsinn hält, also an das intellegere, ist Intelligenz die Fähigkeit zwischen (inter) Alternativen zu wählen (legere). Das ist sicher auch die Grundidee aller unterschiedlichen Theorien der Intelligenz: die kognitive Fähigkeit, zwischen Alternativen zu wählen und dabei die richtige zu finden.
Es versteht sich fast von selbst, dass Intelligenz ganz offensichtlich als eine Art Syndrom ganz unterschiedlicher Fertigkeiten und Fähigkeiten verstanden werden muss – insbesondere die Frage der Auffassungsgabe spielt eine besondere Rolle. Denn die Auswahl zwischen unterschiedlichen Alternativen setzt voraus, die möglichen Alternativen überhaupt aufzuspüren. Wahrscheinlich rühren viele Probleme daher, dass wir uns an zu einfache oder zu eingeführte oder wenig geprüfte Alternativen halten. Wer zwischen A und B entscheiden soll, vergisst, dass es auch ein C oder ein D geben könnte. Es scheint also bei der Intelligenz darum zu gehen, die für eine bestimmte Situation angemessene Lösung zu finden. Wir suchen deshalb Intelligenz(en) auch dort, wo man sie zunächst nicht vermutet.
Ich will jetzt nicht weiter über Intelligenzfragen referieren – auch weil ich erst etwas später darüber schreiben muss –, aber solche Themen fangen ja im Kopf und bei der Lektüre zu gären an, ob man will oder nicht, zumindest mir geht das so. Man muss sich überraschen lassen können von den Verknüpfungen, die einem oftmals eher widerfahren, als dass sie erzeugt werden. Dabei entsteht für mich jedenfalls die Idee, die Intelligenz nicht nur in den Personen selbst, oder besser: nicht in ihnen als isolierten Entitäten aufzufinden, sondern in den Konstellationen, Relationen, sozialen Praktiken und in Netzen. Gut, auch dafür gibt es eingeführte Sätze. Man braucht keine große Intelligenz, um schnell die vernetzte selbige zu preisen und sie für die Lösung zu halten. Aber irgendwie geht es in die Richtung. Die Intelligenz der Einzelnen (vielleicht auch die der Maschinen, falls es so etwas überhaupt gibt) braucht eine entsprechende Umwelt, ein angemessenes Habitat, eine Situation oder auch nur eine Opportunitätsstruktur, damit sie sich entfalten kann. Vielleicht liegt die Intelligenz in diesen Opportunitäts- und Gelegenheitsstrukturen, also zwischen den Köpfen und nicht in ihnen. So denkt sich das auf jeden Fall derzeit in meinem Kopf. Und die bis jetzt konsultierte Literatur weist in diese Richtung, selbst wenn sie das gar nicht explizit thematisiert – was ja fast eine performative Bestätigung der These ist. Doch wie gesagt, ich warte noch, muss erst in einigen Wochen dazu Genaueres sagen können.
Aber: Ich war letzte Woche mehrere Tage in Potsdam, Berlin und Frankfurt unterwegs – mit viel zu vielen Terminen ganz unterschiedlicher Natur. Am Donnerstagabend aber war eine zeitliche Lücke, und ich hatte großes, ja überreiches Glück, eine Karte für die Berliner Philharmoniker zu bekommen. Das große Glück war, dass das Orchester unter Herbert Blomstedt spielte, und zwar das zweite Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in B-Dur, op. 19, und die zweite Symphonie von Wilhelm Stenhammar in g-Moll, op. 34. Das Klavierkonzert, gespielt von Yefim Bronfman, gehört für mich zu den vertrautesten Stücken überhaupt, vor allem der kurze dritte Satz – es ist sicher eines der beethovenigsten Musikstücke, die es gibt. (Kann man das so sagen?) Die 2. Symphonie kannte ich nicht, zugegebenermaßen auch Wilhelm Stenhammar nicht, ein vor allem von Jean Sibelius beeinflusster schwedischer Komponist. Seine Symphonie macht Anleihen in nordischer folkloristischer Musik und ist von einer sehr auffälligen chorischen Instrumentierung, die mich sehr beeindruckt hat. Zur Musik selbst könnte man viel sagen, auch zur Spannung zwischen den beiden Werken.
Aber beeindruckt hat mich an dem Abend etwas anderes, nämlich der Dirigent Herbert Blomstedt. Die Architektur der Berliner Philharmonie ermöglicht es, auch hinter dem Orchester zu sitzen, und ich hatte einen Platz, von dem aus Blomstedt von vorne zu sehen und seine Arbeit mit dem Orchester wirklich wahrzunehmen war. Blomstedt, der in diesem Jahr 92 Jahre alt wird, ist von sehr schmaler Statur und schon altersbedingt eher reduziert in seinen Bewegungen. Er zählt zu den international bedeutenden Dirigenten des 20. Jahrhunderts, hat aber vor allem im deutschsprachigen Raum gearbeitet. Wenn man weiß, dass Blomstedt einer strengen evangelischen Freikirche angehört, nämlich den „Siebenten-Tags-Adventisten“, streng vegetarisch und alkohol- und nikotin-abstinent lebt und sein Leben an den Regeln dieser Freikirche ausrichtet, kann man es auch durchaus sehen. Wenn man es nicht weiß, kann man es nicht sehen. Ich habe Blomstedt schon einige Male gehört, und da wusste ich es noch nicht, auch beim Konzert am vergangenen Donnerstag nicht, ein Konzert, das mich unglaublich beeindruckt hat.
Warum erzähle ich das? Ich habe mich gefragt, warum mich dieses Konzert so sehr beeindruckt hat. Es war im ersten, langen Satz von Stenhammars Symphonie, als mir in den Sinn kam, dass ich Blomstedts Dirigat intelligent fand. Ich kann das nun nicht musikwissenschaftlich begründen, dafür verstehe ich wahrscheinlich zu wenig davon. Ich kann es auch nicht musikalisch/musikpraktisch begründen, dafür bin ich ein viel zu einfacher Freizeitmusiker. Es war vielmehr die unfassbar gelassene Art, mit der Blomstedt das Orchester führte. Seine reduzierte körperliche Präsenz wurde wettgemacht durch eine ganz andere Präsenz, die tatsächlich die Teile des Orchesters aufeinander bezog. Sein Dirigat war eines, das an der ästhetischen Form ansetzte, nicht an der technischen Organisation der Stücke. Man merkte, dass er dem Orchester vertraute. Es hätte fast ohne ihn spielen können, so reduziert gab er Einsätze oder vermittelte so etwas wie Kontrolle und Führung. Es war eher eine Verstärkung von etwas, das schon da war. Es war eine Reduktion der zentralen Figur des Dirigenten, der nicht einfach hinter dem Orchester zurücktrat, sondern das Orchester spielen ließ und doch für es da war.
Geradezu gerührt haben mich seine Armbewegungen bei plötzlichen Zäsuren, bei Subito-Anweisungen. Hier musste der Dirigent energetisch auftreten und tat das, auch altersbedingt, sehr reduziert und doch eben energetisch. Es war deshalb rührend, weil es wirklich an die Grenzen des körperlich Möglichen ging, aber doch auch Ausdruck des gesamten Führungskonzeptes war.
Was war daran intelligent? Blomstedt hat, so war wenigstens mein ästhetischer Eindruck und mehr Gefühl als Argument, eher vorgefunden als erzeugt und daraus einen starken Führungs- und Koordinationsanspruch abgeleitet. Anlässlich eines Konzerts mit dem SWR-Symphonie-Orchester in Stuttgart im Jahre 2018 hat Blomstedt in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung (6. Juni 2018) seine Arbeit so charakterisiert, dass er als Dirigent schon sehr klare Vorstellungen davon hat, wie er sich ein Stück wünscht, dass er aber mit seinen Konzepten an die Grenzen bzw. an den Charakter des Klangkörpers, des Orchesters, des sozialen Systems mit seinen Eigendynamiken stößt und dass seine Aufgabe zunächst darin besteht, das Orchester so zu lassen, wie es ist, um zu sehen, was mit ihm möglich ist. Er hat das nicht im Gestus dessen gesagt, der die Qualitätsgrenzen des Orchesters sucht, um dann herauszubekommen, was er ihm zumuten kann – das wäre das klassische Kontrollparadigma. Er hat es mit dem Gestus dessen gesagt, der den besonderen Charakter des Orchesters auslotet und sehen will, was in der jeweiligen Konstellation möglich ist und wie sich daraus eine entsprechende musikalische Lösung ergibt. Wörtlich sagte er: „Ein Dirigent ist nur ein Zuhörer. Und ein Koordinator.“ Und zur Qualität: „Je besser ein Orchester, desto mehr Einfluss kann er (der Dirigent, AN) nehmen.“
Zugegeben: Ich habe mich im Nachhinein etwas eingehender mit Blomstedt beschäftigt, weil ich meiner Assoziation auf den Grund gehen wollte, warum ich das Konzert nicht einfach nur schön oder beeindruckend fand, sondern vor allem Blomstedt intelligent. Und ich gebe zu, dass meine Recherche meinem Gefühl in die Karten spielt – eine self-fulfilling prophecy? Ich glaube nicht. Denn mein wunderbarer Platz face-to-face mit dem Dirigenten hat genau das nahegelegt, wie da jemand arbeitet, der genau weiß, was er will, aber auch genau weiß, wie es hier und jetzt geht und der so intelligent ist, die Eigendynamik und den Eigensinn dessen, was er da führt und dirigiert auch ästhetisch, ich meine: dirigierästhetisch in den Vordergrund zu stellen. Vielleicht ist das ein Schlüssel für die Frage nach der Intelligenz: auf Totalkontrolle zu verzichten, um zu erreichen, was man sich vorstellt. Eine widersprüchliche Formulierung, aber exakt darum scheint es zu gehen.
Und was der Besuch in der Berliner Philharmonie auch noch bewiesen hat: Es gibt sie, die Künstliche Intelligenz, denn beim Kauf meiner Karte im Internet habe ich auf der entsprechenden Website einfach angeklickt, das System solle mir den besten Platz aussuchen, der in dem so gut wie ausverkauften Konzert noch frei war. Ich weiß nicht, ob meine eigene Intelligenz sich diesen Platz hinter dem Orchester ausgesucht hätte. Und ich hätte nicht einmal erfahren, was mir entgangen wäre.
PS: Es gibt eine aktuelle Einspielung der 2. Symphonie von Stenhammar von Herbert Blomstedt mit dem Göteburger Symphonieorchester bei dem schwedischen Label BIS-Records (EAN 7318599924243)
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /83, 20. Mai 2019