MONTAGSBLOCK /78

Neulich träumte ich mal wieder von früher. Das passiert mir in letzter Zeit öfters. Babyboomer-Romantik-Revival. Also Kamera zurück: In den 1980ern gründete ich mit zwei Kumpels eine kleine Buchhandlung, von der wir leidlich unser Studium finanzieren konnten. Noch wichtiger aber war es, zu lesen, was man in die Finger bekam. Wie ein Schwamm saugte ich mich in diesen Jahren voll. Wenn frühmorgens im Buchladen die Neuerscheinungen eintrafen, zog ich mir den passenden Schmöker heraus, den ich, an der Kasse sitzend, über den Tag hinweg las. Die Tage, an denen es draußen regnete und nur wenige Kunden den Weg fanden, waren richtige Glückstage.

An einem dieser grauen Herbsttage fiel mir ein Suhrkamp-Schmöker* in die Hand, den ich zunächst etwas lustlos durchblätterte. Das Buch ist mir kürzlich wieder in die Hände gefallen, wahrscheinlich habe ich deshalb nicht ganz zufällig von meinen früheren glücklichen Buchhändlertagen geträumt. Der Autor des Buches war ein bekannter deutscher Ethnologe, Universitätsprofessor mit langen Haaren, eine Art verbeamteter Späthippie: Hans-Peter Dürr. Der erste Satz im Buch lautet: „Sieht man von den letzten Jahrtausenden ab, so kann man sagen, dass die Menschen sich während ihrer gesamten Geschichte mit der Welt, in der sie lebten, identifizieren konnten, und zwar mit einer Welt, wie sie war, und nicht, wie sie sein sollte.“ Sollte wohl heißen, dass wir Menschen irgendwann den Kontakt zum eigentlichen Leben verloren hatten, besser gesagt in die Selbstverständlichkeit des Lebens inklusive Todesmoment.

Hans-Peter Dürr hat in seinem Buch diese faszinierende Verlustgeschichte nachgezeichnet. Seine These: Das eintönige, mühsame und langwierige Arbeiten hat im Verlauf der Menschheitsgeschichte immer mehr überhandgenommen. Die Jäger und Sammler mussten im Vergleich zu den späteren Bauern und Hirtennomaden noch wenig arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Mit dem eintretenden Bevölkerungswachstum nach Ende der letzten Eiszeit nahm die Plackerei indes zu. Die Wildbeuter begannen ihre traditionelle Lebensform aufzugeben, „Nutzpflanzen anzubauen und Tiere zu züchten“. Heute bauen wir Serverparks, züchten Daten und träumen von einem Leben, wie es sein sollte. Auch ziemlich eintönig.

Doch zurück zur letzten Eiszeit: Das Leben wurde – kleine Nebenbemerkung: wir leben heute kurz vor Beginn einer neuen Eiszeit – immer mühsamer, und damit stiegen auch die Konflikte innerhalb der und zwischen den Gesellschaften. Die Menschen mussten sogar lernen, ihr Leben zu hassen. Same shit, different day! „Obgleich die Zivilisation seit der neolithischen Revolution stetig Fortschritte machte, sank die Lebensqualität.“ Mit dem Kummer darüber entwickelte sich das weltanschauliche Nachdenken über die Fron im Diesseits. Jenseitslehren und Weltflucht kompensierten den konkreten Weltenjammer, Religionen und Mythen übernahmen den Erklärungsnotstand und pusteten Sinn ins Vakuum. Aus der Welt, wie sie war, wurde die Welt, wie sie sein sollte. Aus dem Befund schälten sich Annahmen. Darunter befanden sich sehr schnell politische, die man zuvor nicht kannte. Zum Beispiel, dass die Herrschaft einiger weniger vernünftiger sei als egalitärer Individualismus. Die römischen und germanischen Herrschaftsverträge suggerieren genau mit dieser Vorstellung die erste angeblich gerechte Herrschaft zwischen Volk und Herrscher. Erst viele Jahrhunderte später etablierte sich die Denkfigur, der zufolge freie und gleiche Menschen freiwillig einer gesellschaftlichen Ordnung zustimmen würden.

Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Aufklärung stand auf dem Plan. Mit ihr wurden die ersten Vertragstheorien salonfähig, die das persönliche Glück auf Erden implizit legitimieren wollten. Aber auch hier hatte der Deal eine Schieflage: Die Individuen einer Gesellschaft, da angeblich machtsüchtig, aggressiv und von Neid zerfressen, übertragen einem politischen Körper die Überwachung ethischer und moralischer Regeln. Bei Rousseau verpflichtet sich dieser Souverän, gemäß einem Gemeinwillen zu handeln, die Untertanen erklären, diesem Gemeinwillen Gehorsam zu leisten. Auch bei Kant handelt der Gesetzgeber so, als ob die Gesetze dem vereinten Willen eines ganzen Volkes entspringen würden. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv, also auf der Annahme, dieser Gemeinwille könnte sich konkret herausbilden. Darüber streiten sich jedoch die Gelehrten seit Thomas Hobbes, der gar einem Leviathan, dem König der Stolzen, die absolute Machtgewalt des Souveräns übertragen wollte. Etwas gemäßigter sahen es die Demokratietheorien der Moderne, die den Souverän auf ein paar mehr Köpfe in Parlamenten verteilten. Bis heute ist jedoch umstritten, ob und wie der Einzelne sein freies Selbstbestimmungsrecht in einer Vertragssituation wahren kann und ob der Eigen- im Gesamtwillen aufgeht.

An diesem Punkt könnte jedoch eine gesellschaftspolitische Debatte reaktiviert werden. In europawahlnahen Zeiten, in denen die Demokratie zunehmend diskreditiert und es mancherorts sogar salonfähig wird, nach einer starken Hand zu rufen und nationale Abschottung zu lobpreisen. Im Zeitalter dieser anschwellenden Bocksgesänge also lieber kurz und grundsätzlich innehalten: Welche beste politische und ökonomische Ordnung gewährleistet dem Einzelnen die besten Chancen zur Selbstverwirklichung und der Gesellschaft das höchste Maß an Gemeinwohl? Oder anders gefragt: Wie findet man eine Balance zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte? Vielleicht fangen wir zunächst ganz bescheiden wieder an, zu lesen, wenn es draußen regnet. In 25 Jahren sieht die Welt dann bestimmt ganz anders aus.

* Hans-Peter Dürr: Sedna oder die Liebe zum Leben. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 1989.

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK /78, 11. März 2019