MONTAGSBLOCK /76

Von Paul Watzlawick, dem großen österreichischen Psychologen, der knapp 50 Jahre in Kalifornien geforscht und gelehrt hat, gibt es eine schöne Anekdote. Ein französisches Ehepaar wünscht sich verzweifelt Kinder. Als die beiden die Hoffnung schon fast aufgegeben haben, tritt der Glücksfall doch noch ein. Aus Freude und Dankbarkeit nennen sie ihr Söhnchen „Formidable“. Der Name indes wird zur Bürde. Zeit seines Lebens bleibt Formidable eine Zielscheibe lahmer Witze. An seinem Sterbebett gesteht er schließlich seiner Frau: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit diesem blöden Namen abgefunden, nun möchte ich nicht, dass er auch noch auf meinem Grabstein verewigt wird. Schreib, was du willst, aber erwähne meinen Namen nicht.“ Und so gibt sie einen Grabstein in Auftrag, auf dem zu lesen steht: „Hier liegt ein Mann, der sein ganzes Leben seiner Frau treu und liebevoll ergeben war.“ Und jeder, der fortan an diesem Grab vorbeikommt, hält kurz inne und sagt unweigerlich: „Tiens, c’est formidable.“

Besser kann man kaum anschaulich machen, wie sehr eine plausible Lösung zum Problem werden kann. Moderne Gesellschaften verzweifeln oft an dieser Logik. Sie wähnen sich im kollektiven Vorgefühl der Richtigkeit der einzig wahren Lösung, die allerdings gleichzeitig den Keim des ursprünglichen Problems in sich wachsen lässt. Dieselautos etwa waren früher formidable: weniger Spritverbrauch, weniger CO2, weniger Tankkosten. Heute wollen viele mit dem blöden Diesel gar nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Noch auf dem Sterbebett hüstelt die feinstaub-kontaminierte Verkehrspolitik: „Ich habe mich mein ganzes Leben lang mit diesem blöden Diesel abgefunden, nun möchte ich nicht, dass er in irgendeinem Nachruf erwähnt wird. Schreibt, was ihr wollt, aber erwähnt diesen Namen nicht.“ Und so steht tatsächlich zu lesen: „Hier liegt eine Verkehrspolitik, die ihr ganzes Leben dem Autofahrer treu und liebevoll ergeben war.“ Und während noch diskutiert wird, woher der Strom für die neuen E-Autos kommen soll und die CO2-Emissionsgrenzen der EU ohne Bußgelder eingehalten werden können, heißt es unweigerlich: „Typisch Diesel. Abtreten!“

Soziologisch betrachtet wäre etwas mehr Gelassenheit ratsam. Denn jede Beobachtung ist zunächst nur eine unter vielen. Es ist entscheidend, von welcher Perspektive aus man die Gesellschaft betrachtet. Realität ist, wie in der Gesellschaft unterschiedlich beobachtet wird. Eine moderne Gesellschaft zeichnet sich deshalb dadurch aus, dass erstens alles auch anders sein könnte (Kontingenz), zweitens sich „jene empirischen Operationen (Beobachtungen) und Kommunikationen (Handlungen) einstellen, die wir beobachten“. Die Folge: Es könnte von jedem Punkt aus auch woandershin weitergehen. Die Gesellschaft ist polykontextural: „Es gibt keinen dominanten beziehungsweise legalen Beobachter. Die Gesellschaft ist ohne Mitte, sie ist nicht ausstattbar mit gesellschaftsweit gültigen Direktiven.“

Armin Nassehi weist auf diesen Umstand nimmermüde hin. Einerseits pluralisieren und multiplizieren sich die Perspektiven im Zeitgespräch, andererseits simulieren sie Einheit, wo immer sie können. Anders gesagt: Komplexität strebt nach Einfachheit. „Alle prominenten Programme dieser gesellschaftlichen Welt ringen um Anerkennung für Unterschiedliches unter dem Dach eines Geltungsraumes.“ Die Demokratie (Politik) sucht diese Vielfalt und Differenz von Ideen, Meinungen und Positionen zu integrieren. Der Markt (Wirtschaft) lässt sogar potenzielle Feinde an derselben Sache mitwirken. Hier zeigt sich die wahre Inklusionsleistung der modernen Gesellschaftssysteme. Sie inkludieren die Interessen- und Perspektivendifferenz der einzelnen Menschen, indem sie die persönliche Vernunft öffentlich machen, weil sie das vorher Unbeobachtete beobachtbar machen und weil sie ein Publikum in eine Arena zur Selbstvergewisserung vor anderen einladen. Erst dann kann sich das System als vernünftig bewähren, indem es diese Stellungnahmen, Geltungsansprüche und Interessen mit einem Ja oder Nein quittiert.

Die individuelle Vernunft hat sich, wie Jürgen Habermas sagen würde, in der Arena der öffentlichen Vernunft zu bewähren. Das Eigene, weil es anerkannt wird, kann sich nur so durchsetzen. Gesellschaft ist diesbezüglich der aufgespannte Raum, in dem diese Partizipationsdiskurse plausibel geführt werden können. Womit wir wieder bei Paul Watzlawick sind. Jede Lösung kann zum Problem und jedes Problem zur Lösung werden. Hauptsache, es bildet sich ein öffentlich-vernünftiger Inklusionsraum heraus. Wir schalten wieder um zur Dieseldebatte!

Peter Felixberger

MONTAGSBLOCK /76, 11. Februar 2019