MONTAGSBLOCK /73

Vielleicht ist der Silvestertag ein guter Tag, um über Zäsuren nachzudenken. Wir leben in einer so schnellen Zeit, dass wir immer wieder glauben, die Dinge änderten sich radikal. Zugleich leben wir in einer Zeit, in der oft genug beklagt wird, dass es so schwer ist, etwas zu verändern. Der Jahreswechsel ist jedenfalls ein schönes Symbol dafür, wie sich trotz konkreten Veränderungswillens die Struktur von Gewohnheiten und bewährten Abläufen gegen den Willen der Veränderung durchsetzt. Wir sind träger, als wir wollen – im wahrsten Sinne des Wortes: Wir sind träger, als wir es uns mit unserem dynamischen Selbstbild von Selbstkontrolle und Autonomie zugestehen wollen; und wir sind am Ende träger, als es unser Wille je überwinden kann. Veränderungsvorsätze stoßen an die Grenze unserer Trägheit, etwas technischer ausgedrückt: Die Prozesse unseres Lebens bestätigen zumeist die Strukturen, in denen diese Prozesse stattfinden. Wer wird sich heute nicht alles vornehmen, im Alltag mehr auf die Gesundheit zu achten, nachhaltiger zu leben, sich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren, seltener mit dem Automobil zu fahren und was der erwartbaren und weniger erwartbaren Vorsätze alle sein mögen? Solche Vorsätze scheitern fast nie an unserem Willen, auch nicht wirklich an unseren Überzeugungen, sondern eher an einer bewährten Struktur, die so widerständig ist, dass sie den Willen und die Motive des Veränderns immer wieder einfängt.

Das klingt wie eine Karikatur der Diagnose einer disruptiven Gesellschaft, einer Beschleunigungskultur, einer unübersichtlichen Lage oder einer Verschlimmerung von allem. Es klingt eher nach dynamischem Stillstand, nach Bewegungs- und Prozessstabilität, die sich von unserem Willen, unseren Veränderungs- und Verbesserungsbestrebungen, auch vom Leiden am Gewohnten kaum beeindrucken lässt.  Sich zu ändern ist schwierig, veränderte Praktiken in den Alltag zu retten, ist sehr voraussetzungsreich, und Strukturen wirklich zu ändern, nur schwer möglich. Und was hier für individuelle Personen gilt, gilt auch für soziale Einheiten wie Familien oder Organisationen, erst recht für Gesellschaften. Schon die sich wiederholende Selbstbeschreibung hoher Veränderungsdynamik ist, genau genommen, eine paradoxe, eine sich selbst dementierende Form. Wir gewöhnen uns nämlich an die Diagnose, dass sich nun alles ändert. Dass sich alles ändert, dass dies oder jenes eine Zäsur sei, dass alles Gewohnte verschwindet, ist eine Diagnose, die sich nicht ändert. Zumindest für diese Form der Selbstbeschreibung lässt sich keine Zäsur ausmachen, und sie verschwindet auch nicht. Wir haben uns an sie so sehr gewöhnt, dass die allabendliche Nachrichtendiagnose, dies oder jenes werde von jetzt alles ändern und nichts könne mehr so sein wie zuvor, geradezu ein prozessualer Garant dafür sein könnte, dass alles so weitergeht.

Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie voraussetzungsreich Nichtveränderung und Stabilität sind. Schon organische Systeme versuchen zur Sicherung des eigenen Überlebens sich durch Abgrenzung von ihrer Umwelt von zu starkem Veränderungsdruck unabhängig zu machen. Nervensysteme und Gehirne reagieren nur auf Eigenzustände und formen sich ihren Umweltkontakt so, dass sie damit umgehen können. Das Gehirn testet vor allem Hypothesen, die es aufgrund eigener Erfahrung schon hat – und für unsere Lebensführung gilt Ähnliches. Wir können nur auf die Erfahrungen zurückgreifen, die wir haben – phylogenetisch und individualgeschichtlich. Das schließt Lernen nicht aus, aber es schützt uns davor, bewährte Strukturen über Bord zu werfen. Überhaupt sind wohl Sparsamkeit und Energieeinsparung durch Veränderungsresistenz ein Prinzip der Strukturerhaltung, das sich in allen belebten Formen findet. Was sich einmal in dieser Hinsicht bewährt hat, wird man so schnell nicht wieder los.

Für soziale Einheiten gilt das auch. In ihnen herrscht oft eine unfassbare Brutalität von Strukturen und Erwartbarkeiten. Man kann das an Organisationen gut beobachten, die womöglich ihr gesamtes Personal auswechseln können und doch in Gewohnheiten zurückfinden, die denen ähneln, die sie loswerden wollten. Und moderne Gesellschaften haben Strukturen entwickelt, die sich geradezu resistent gegen Veränderung zeigen. Der Zahlungsmechanismus in der Wirtschaft oder der Machtmechanismus in der Politik ist unhintergehbar – was ja erst die Variationsbreite von möglichen Lösungen eröffnet. Auch kapitalismuskritische Lösungen müssen sich ökonomisch bewähren, und um Macht zu kontrollieren, muss man Machtoptionen rechtlich absichern und strukturieren. Wer wissenschaftliches Wissen anzweifelt, kann kaum anders als dies in der Form von Wahrheitsfragen zu tun. Und dass die journalistische Publizistik Informations- und Wahrheitsfragen nicht wirklich in eins bringen kann, wird zurzeit aus gegebenem Anlass stark diskutiert.

Die Gesellschaft ist von grandioser Dynamik, und es verändert sich alles unglaublich schnell – aber die Grundstrukturen bleiben fast unverändert und erleben sich als beinahe unabänderlich. Ein schönes Beispiel sind die digitalen Disruptionen, die wir derzeit beobachten. Eine völlig neue Form der Wertschöpfung, eine ganz neue Art der Kostenstruktur aufgrund anderer Grenznutzenformen, die Entstehung einer zahlenmäßig kleinen Elite von Innovatoren, die radikale Konzentration von Kapital auf wenige monopolistische Akteure – all das wirkt unglaublich disruptiv, folgt aber  den Bahnen und Formen einer erstaunlich stabilen Gesellschaftsstruktur. Als kapitalistische Form ist sie angewiesen auf Marktmechanismen von Nachfragern, was auf die Grenzen von Monopolbildung verweist. Als Kontrollform muss sie sich mit Machtchancen auseinandersetzen. Als Medienform trifft sie auf die Logik des abnehmenden Nutzens sich wiederholender Informationen.

Ich behaupte nicht, dass das keine radikalen Veränderungen seien. Sie sind vielleicht radikaler, als wir es derzeit wissen (wollen). Aber die Strukturen, wie die Gesellschaft darauf reagiert – politisch, ökonomisch, medial, wissenschaftlich, rechtlich, moralisch, ästhetisch, konsumierend –, bewegt sich in erstaunlich gewohnten Bahnen. Es ist also zu erwarten, dass die Probleme auch 2019 nicht gelöst werden können. Genau wie die meisten individuellen Vorsätze ins Leere laufen – oder besser: in die Fülle einer Welt, die so ist, wie sie ist.

Das ist keine fatalistische Wortmeldung zum Jahreswechsel, sondern der Hinweis darauf, dass Veränderungen womöglich intelligenter erfolgen müssen. Vielleicht kann man von individuellen Strategien lernen. Man kann sich vornehmen, weniger zu essen – Psychologen empfehlen dann, den Vorsatz in die eigene Umwelt einzubauen, etwa kleinere Teller zu nehmen, die mit weniger Essen voller aussehen. Oder man kann sich mehr Bewegung vornehmen und durchforstet den Kalender nach Sportmöglichkeiten – ohne Erfolg. Aber schon wenn man eine Station früher aus der U-Bahn aussteigt oder auf den Aufzug verzichtet, kann das am Tag 5000 Schritte mehr ausmachen. Dann gewöhnt man sich womöglich an Bewegung und macht Sport. Man kann an die Strukturen nur ran, wenn man neue Prozesse findet, die sich bewähren können. Sie müssen im Alltag funktionieren, damit sie im Alltag funktionieren. Das ist keine Tautologie!

Verbote sind eine interessante Form. Die einen setzen auf Freiheit und freien Willen, die anderen auf strikte Verbote. Beides hat seine Berechtigung, aber man muss es intelligent machen. Wenn man maximal verbietet, wird man nicht einmal den Willen erzeugen, die Dinge richtig zu tun. Wenn man auf den Willen allein setzt, setzen sich die gewohnten Strukturen durch. Intelligent wäre eine Strukturierung, die den freien Willen anstachelt und Notwendigkeiten in Überzeugungen ummünzt. Wenn man sich nur Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt oder Liberalisierungen in der Kultur ansieht, haben sich die jeweiligen Gegner fast immer nach kurzer Zeit daran gewöhnt. So ändern sich Strukturen langsam und unmerklich, nicht disruptiv und plötzlich. Und geändert haben sie sich erst, wenn man es nicht mehr merkt.

Aus diesem Grund sind übrigens die Zeitgenossen meist nicht die besten Zeugen für gesellschaftliche Veränderungen – die, wie gesagt, erst dann stattgefunden haben, wenn man sich an sie gewöhnt hat. Nur Katastrophen merken wir gleich – und gegen die schützen sich Organismen durch Konzentration auf die überlebenswichtigen Funktionen, Gehirne durch Ausblendung von Umweltkontakt, soziale Einheiten durch Betroffenheit. Am besten wäre es, Katastrophen verhindern zu können, damit sich etwas ändern kann.

Insofern ist für den Jahreswechsel ein Nachdenken darüber anzuraten, klug und langsam an Prozessen zu arbeiten, Variationen auszuprobieren, um Strukturen zu einer Evolution anzuregen, die sich stabilisieren kann. Wir müssen anerkennen, dass alle dynamischen Systeme – von Organismen über Nervensysteme, Menschen und soziale Einheiten – nur deshalb dynamisch sein können, weil sie eine Grundstabilität haben, die erst die Basis für Veränderungen ist.

Insofern wünsche ich Ihnen ein gutes Jahr 2019 – und nehmen Sie sich vor, zu bleiben, wie Sie sind. Das ist die einzige Möglichkeit, wirklich etwas zu verändern.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /73, 31. Dezember 2018