Zweiter Adventssonntag, Berlin-Neukölln, Weihnachtsmarkt. Mein Kater von der Verlagsweihnachtsfeier befindet sich noch im Stellungskrieg mit meinem Wohlbefinden. Auf dem Markt nur Stände von sozialen, ökologischen und kirchlichen Hilfsorganisationen. Auf der Bühne eines Trucks singt eine Behindertengruppe Weihnachtslieder. Von oben regnet es stumm. Das Publikum: viele Gentrifizierer, Bildungsbürger und Feudalbourgeois. In den Straßen hinter dem Markt wohnen und leben die Ärmeren und Armen, Obdachlose. Es ist der ärmste Bezirk in Berlin. Mit Kinderarmut, Altersarmut, Schulabbruch und Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Außerdem haben laut Statistikamt mehr als 50 Prozent der Nord-Neuköllner einen Migrationshintergrund. Ein sozialer Dauerbrennpunkt. Die alteingesessene Bevölkerung wird unterdessen durch steigende Mieten verdrängt. Die Neubürger trinken fröhlich Glühwein, die Schlange beim Kinder-Ponyreiten ist endlos.
Vorgestern, Freitag, Köln Hauptbahnhof. Rushhour. Ich beobachte mehrere junge Obdachlose, die auf den Bahnsteigen Menschen sehr offensiv um eine finanzielle Donation bitten. Entwurzelte mit halb zerrissener Kleidung, laut, auffällig. Ihr Hab und Gut in ausgewölbten Rucksäcken. Die Lumpenproletarier von heute cruisen im Nahverkehr durch die Stadt und baggern die Leute an. Ich komme ins Gespräch. Aber keine Sprache verbindet uns. Mitleid prallt ab. Am Ende ein verächtliches Lächeln für mich. Du – andere Welt. Punkt. Die S-Bahn zum Flughafen fährt ein, die Bettler warten auf neue Kundschaft. Ich enteile in meine „gute“ Welt.
Am Abend fällt mir mein Buch Deutschlands nächste Jahre ein, das ich vor knapp zehn Jahren geschrieben habe. Ich blättere darin herum. Und finde Abschnitte wie, dass die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern in der Gesellschaft größer wird: Während einige Freiheit und Autonomie einfordern, brauchen andere Fairness und Solidarität. Während manche frei von unnötigen Vorschriften und Zwängen sein wollen, bestehen andere auf entschiedener Führung und Schutz. Die Politik wird deshalb künftig unter dem Druck stehen, diese Kluft zu überbrücken und überzeugende Angebote und Definitionen von Gemeinsamkeiten zu liefern.
Gemeinsamkeiten? Das Wort scheint seltsam entrückt. In einer Welt mit einer krassen Kluft zwischen denen, die Freiheit nutzen, und jenen, die Freiheit nie erreichen. Zwischen Zuversichtlichen und Verängstigten. Zwischen Habewas und Habenix. Berlin, Köln, everywhere? Da fällt mir noch eine Textpassage auf:
Dabei geht es nicht einfach um die traditionelle Kluft zwischen Arm und Reich, Rechten und Linken, Modernen und Konservativen, sondern um eine Kluft, die auf der individuellen Fähigkeit basiert, mit einer immer komplexeren Welt fertig zu werden. Ein Teil der Gesellschaft wird deshalb Schutz und Führung erwarten, während andere ihre eigenen (Lebens-)Ziele verfolgen und feste Verpflichtungen auf ein Minimum reduzieren. Manche Menschen haben eine gute Verhandlungsbasis in ihrem Leben und befinden sich im Aufwind, während die Karten anderer schlechter sind und sie sich in einer Abwärtsspirale (bezüglich der Kontrolle über ihr Leben) befinden. Der ersten Gruppe bieten sich neue, ungeahnte Möglichkeiten, während sich am anderen Ende der Fahnenstange die Menschen einer Welt ausgesetzt sehen, die sie nicht mehr verstehen. Fairness ist ihnen wichtiger als Freiheit. Sie wünschen sich mehr Stärke und Einsatz von der politischen Führung und Institutionen, die ihre alte Kraft wiedergewinnen – auch wenn ihnen gleichzeitig bewusst ist, dass genau das nicht passiert. Die Nation, die Nachbarschaft, ihr unmittelbares soziales Umfeld bedeutet ihnen sehr viel. Allerdings bricht diese geschlossene Gesellschaft immer mehr auf und stellt ihre kulturelle Identität vor immer neue Herausforderungen. Die Gemeinschaft, auf die sie traditionell vertrauen, löst sich auf. Einwanderung und Globalisierungskräfte stellen ihre Heimat in Frage. Sie bedauern, dass die Solidarität, der Zusammenhalt und die Berechenbarkeit, die die alten Strukturen boten, sich nun auflösen. Aus ihrer Perspektive muss diesen Bedrohungen entgegengewirkt werden. Doch die Politik kann ihnen den Schutz nicht bieten, den sie erwarten.
Alles geschrieben vor der Flüchtlingskrise und dem Aufstieg der AfD, vor dem Zerfall der großen Volksparteien. Und was hat sich wirklich geändert? Die Obdachlosen und Habenichtse sind jedenfalls mehr geworden. In den letzten zehn Jahren hat sich ihre Zahl verdoppelt, in München sogar verdreifacht. Wer kümmert sich um ihre Komplexität? Wer gibt ihnen das Gefühl, wieder wirksam sein zu können? Müdigkeit treibt mich ins Bett. Die Mehrheit der Deutschen erwartet übrigens, dass 2019 alles beim Alten bleibt, sagt das Politbarometer im ZDF, bevor ich die Glotze abdrehe. Dann können wir ja beruhigt einschlafen. Die Sedierung nimmt zu. Weihnachten in Sicht, der Schlaf der Ungerechten wird unruhiger! Übrigens: Das Buch entstand damals aus einem Zukunftsdialog mit vielen Experten im Kanzleramt. Unglaublich, wie wenig deren Einschätzungen und Urteile später politisch umgesetzt wurden. Die AfD war die Quittung.
Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /72, 17. Dezember 2018