Ich schreibe diesen Montagsblock im Zug auf der Rückfahrt von Chemnitz, wo ich das Vergnügen hatte, einen Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Festivals „Aufstand der Geschichten“ zu halten. Das Konzept des Festivals ist sehr gelungen. Klug am Konzept ist die Erfahrung, dass es eher Erzählungen als bloße Informationen sind, eher Erzählbarkeit als Erklärbarkeit, die die Position von Menschen ausmachen. Ich habe mit vielen Chemnitzern und Chemnitzerinnen gesprochen, die fast alle dasselbe gesagt haben: Über unsere Stadt werden derzeit die falschen Geschichten erzählt. Es sieht von außen so aus, als seien wir eine rechtsradikale Stadt im Ausnahmezustand, geradezu unbegehbar, gefährlich, grausam. Es sei so einfach, das Problem des Rechtsradikalismus und der gewaltbereiten Schlägergruppen mit Chemnitz gleichzusetzen, obwohl man wissen könne, dass die Stadt ein großes Potenzial an Kultur, an Reflexion, an Auseinandersetzung mit ihrer Situation habe. Sie kämen aber nicht dagegen an – und begannen zu erzählen. Sie erzählten plausible Geschichten über die Stadt, über das Zusammenleben, über die Gefährdungen, aber auch über das Gegenteil. Schon im Zug dorthin habe ich mit einer ortskundigen jungen Frau gesprochen, die ich um Auskunft darum gebeten habe, ob ich mein Hotel zu Fuß erreichen könne oder besser mit der Tram oder einem Taxi fahren solle. Sie hat die Frage nicht auf die Entfernung des Hotels vom Bahnhof bezogen, sondern meinte, ich hätte Sorge, ob ich denn wohl lebendig dort ankommen würde – das Hotel war übrigens in unmittelbarer Sichtweite der Ereignisse vom Sommer, wie ich später erfuhr.
Gewissermaßen ungefragt hat die junge Frau, die ihr Geld übrigens mit interkulturellen Trainings verdient, erzählt, Chemnitz sei ganz anders. Solche Erzählungen sind mir den ganzen Abend begegnet – übrigens auch von Leuten mit migrantischen Erfahrungen, die nichts auf ihre Stadt kommen lassen wollten. Die gewaltbereiten Horden seien keine Chemnitzer, die hausten dort auf dem platten Land bis Nordbayern, man müsse nur die Autonummern recherchieren, und sie seien wie Sondereinsatzkommandos zur Stelle, wenn man sie brauche.
Ob diese Geschichte stimmt, ist weder entscheidend, noch habe ich Zweifel daran. Interessant ist vielmehr, sehen zu können, dass sie versuchen, sich einen Reim auf die Dinge zu machen. Sie nähern sich ihrer Situation damit, dass sie Erzählungen gegen andere Erzählungen setzen. Sie erleben, wie erfolgreich sowohl die rechten Erzählungen vom Eigenen und Fremden, von der Überfremdung, von der Ehre und dem Abgehängtsein sind. Und, so hörte ich es immer wieder, sie seien es leid, dem mit Widerlegungsgesten zu kommen. Als hätten sie sich abgesprochen, hörte ich immer wieder den Hinweis darauf, Chemnitz sei im Hinblick auf alle „objektiven“ Daten – Arbeitslosigkeit (nur gering höher als der Bundesdurchschnitt), ökonomische Prosperität (BIP ungefähr Bundesdurchschnitt), Kulturangebot, Pluralität dieses Angebots usw. – eine wirklich sympathische Stadt, in der man gut leben kann. Die Wahlergebnisse seien sächsischer Durchschnitt, der Anteil der AfD also etwa doppelt so hoch wie in Bayern, aber niedriger als bei der letzten Landtagswahl im niederbayerischen Deggendorf. All diese Informationen könne man wissen – aber es helfe nichts.
Man merkte: Die Leute mussten erzählen – sie wählten Mythos statt Logos, Erzählung statt rationaler Erklärung, Geschichten statt bloßer Information. Man datiert in unserer Kultur den Beginn des rationalen Denkens mit der Bekämpfung des Mythos – der Logos als universalistische Form des Denkens habe den Mythos mit seinen partikularistischen Denkungsarten in seine Schranken zu weisen. Ganz abgesehen von einer langen Tradition über die Frage, ob der Logos überhaupt ohne die Rationalität des Mythos auskommen könne, ist diese Opposition auch soziologisch allzu einfach. Immerhin hat Hegel oder Schelling (man weiß es nicht genau, wer von beiden es geschrieben hat) im Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus am Ende des 18. Jahrhunderts ausgerufen, dass die Ideen „ästhetisch, d.h. mythologisch“ gemacht werden müssten, dass das Volk sie verstehen könne, wie auch „die Mythologie … philosophisch“ werden muss, damit sie vernünftig sein kann. Irgendwie haben die Leute das am Abend der Eröffnung des „Aufstands der Geschichten“ versucht. Weniger philosophisch begründet, aber mit der Selbsterfahrung, dass sie das, was sie vernünftig sagen wollen und müssen, nur in Form von Geschichten formulieren können.
Das Festival versucht diejenigen, die als AfD-Wähler, als Verunsicherte, diejenigen, die die „Fremden“ für ihre Zwecke instrumentalisieren, die das Vertrauen in das politische System der Bundesrepublik verloren haben, diejenigen, die sich an das Ende der DDR erinnert fühlen (ein narrativer Topos, der immer wieder auftaucht), dazu zu bringen, mit anderen Erzählungen konfrontiert zu werden. Es ist eine weichere Variante als der Versuch, einen vernünftigen Konsens zu erzielen. Die Habermas‘sche Idee des Konsenses war darauf gemünzt, den Leuten ihre Borniertheiten auszutreiben, sie sollten sich konsentieren, aber richtig.
Dagegen ist nichts zu sagen, aber hier wird anders gearbeitet. Sie sollen erzählen, warum sie sich so sehen, wie sie sich sehen. Ich glaube, die Strategie besteht nicht darin, die Leute von anderen Geschichten zu überzeugen. Es ist nicht der argumentative Versuch, das Richtige gegen das Falsche, das Rationale gegen das Irrationale, das Wissenschaftliche gegen das Mythische, das Angemessene gegen das Unangemessene durchzusetzen. Das Festival setzt darauf, so würde ich es interpretieren, dass die Leute vielleicht ein bisschen vor ihren eigenen Geschichten erschrecken und vielleicht auf andere Geschichten kommen.
Was passiert eigentlich, wenn man diejenigen, die übers Eigene gegen das Fremde reden, dazu auffordert, das Eigene wirklich zu beschreiben? Meist kommt Unsinn dabei heraus, Tautologien: das Eigene sei das Eigene, weil es ja unseres ist, das Eigene eben. Das kann man immer wieder beobachten. Man kann dagegen an argumentieren, man kann aber auch die Geschichte als Geschichte beobachten, um ästhetisch zu demonstrieren, dass sie in Sackgassen läuft. Wenigstens ist das die Hoffnung.
Der „Aufstand der Geschichten“ ist also ein wirklich subtiles Programm: Es referiert darauf, dass derzeitige Aufstände von den Verunsicherten, von den Abgehängten, von den Enttäuschten und wie man sie nennen soll, erzählerisch produziert werden. „Rassismus“ ist vor allem ein Gewöhntwerden an eigene Sätze. Wer mit rassistischen oder ausländerfeindlichen Sätzen nicht auf Widerstand stößt, gewöhnt sich an sie. Sie habitualisieren sich. Sie bekommen eine narrative Struktur. Gegen diesen Aufstand kann man nicht argumentieren. Das Argument verstärkt oft die Überzeugung – nur so kann man erklären, dass man mit offenkundigen Lügen zum Präsidenten der USA oder in deutsche Landesparlamente gewählt werden kann. Das Problem ist nicht die Lüge, das gehört zur Grundausstattung, sondern das Offenkundige daran.
Das kann man nur überwinden, wenn andere Geschichten angeboten werden, wenn man sich vielleicht an andere Geschichten gewöhnen kann, wenn man wenigstens Gelegenheit dazu bekommt, nicht nur das Objekt von Belehrung, sondern das Subjekt von Narrativen zu sein. Ich finde jedenfalls den Ansatz dieses Festivals ungewöhnlich intelligent, weil er viel stärker an den Wurzeln von Überzeugungen und alltäglichen Bewährungsbedingungen von sagbaren Sätzen ansetzt statt an der (natürlich notwendigen) direkten Kritik daran. Wenn man mit rechten oder wenigstens pluralismusskeptischen Sätzen und Einstellungen die Selbsterfahrung machen kann, die Etablierten (die man ja mit dieser Entgegensetzung erst imaginierend erzeugt) herausfordern zu können, dann sind genau das die Bedingungen, unter denen sich solche Sätze bewähren. Ich glaube, die Verunsicherten hätten es den Flüchtlingen nie verziehen, wenn sie nicht gekommen wären, weil ihnen dann der erzählerische Fokus abhandengekommen wäre – Alexander Gauland hat ja einst selbst eingeräumt, wie dankbar die AfD den Flüchtlingen sein kann, weil sie ohne sie ihre narrative Grundlage verloren hätte. Sie muss ja womöglich bald sogar ohne Angela Merkel auskommen. Das könnte für sie noch schwieriger sein als ohne Flüchtlinge.
In Chemnitz jedenfalls ist die Suche nach angemesseneren Geschichten mit Händen zu greifen – und es waren nicht nur die üblichen linksliberalen Eliten da, die ja auch nur eine erzählerisch gut funktionierende Adresse sind, denen man gerne die Pest an den Hals wünscht. Einer der Teilnehmer sagte gestern: Viel schlimmer als die Abwicklung der ehemaligen DDR-Wirtschaft und der ökonomische und erwerbsbiografische Kahlschlag, als den das viele erlebt haben, sei der Abbruch der Sagbarkeit des eigenen Lebens gewesen. Ich habe das Gefühl, dass die Leute so weit sind, sich dieser Frage ganz ohne Nostalgie und verklärende Erinnerung zu stellen. Ich jedenfalls habe sehr von den Begegnungen in Chemnitz gelernt – und mein Festvortrag diente nur dazu, mit wissenschaftlichem Logos sein Gegenteil stark zu machen: die erzählerische Rede, von der der wissenschaftliche Logos übrigens mehr enthält, als er es sich zugesteht.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /69, 05. November 2018