MONTAGSBLOCK /65

„Sie sind perfide, haben eine Doppelmoral und können nicht anders. Und sie täuschen uns, wo es nur geht. Nun muss man zu ihrer Ehrenrettung sagen, dass sie es nicht anders kennen – aus einer Mischung aus jahrhundertelanger Inzucht und kulturellem Expansionismus ist ihnen das Perfide und die Doppelmoral so sehr zur zweiten Natur geworden, dass man fast Mitleid mit ihnen haben muss.

Das Perfideste ist die Doppelstrategie ihrer heiligen Schriften. In einem alten Teil huldigen sie ihrem Gott, der ein strafender Gott ist, unmittelbaren Gehorsam verlangt und eine geradezu archaische Form der unmittelbaren Kette von Schuld und Sühne etabliert. Dieses Verhältnis von göttlicher Herrschaft und menschlicher Unterwerfung ist ihnen nicht nur ein abstraktes Programm, sondern Quelle einer allzu konkreten Moral. „Wer über Gott spottet, muss sterben, die ganze Gemeinde soll ihn steinigen, egal ob es ein Einheimischer oder ein Fremder ist.“(1) So lassen sie ihren Gott zu Moses sprechen. Sie kennen nichts anderes als die ewige Kette der Schuld. Es ist die archaische Idee der permanenten Wiederherstellung einer Gerechtigkeit, vor der kein Einzelner eine Chance hat. „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule.“(2) Es ist eine Religion der Angst, die hier beschworen wird.

Nun kennen auch wir deutliche Regeln des Alltags, und soziale Ordnung ist ohne solche Regeln auch gar nicht möglich. Aber ihre Ordnung ist nicht darauf ausgerichtet, so etwas wie eine harmonische, ja fast geometrische Form zu finden, wie sie uns vorschwebt, sondern eine gewaltsame und unterwerfende Form, die dem Einzelnen sogar die Freiheit nimmt, aus freien Stücken Gläubiger zu sein. Liest man ihr altes Buch, dann bekommt man tatsächlich den Eindruck einer Gewaltherrschaft – und nur völlig Verblendeten wird hierbei die Parallele nicht deutlich, die sich in ihrem jahrhundertelangen Anspruch auf weltweite Ausbreitung verbirgt. Sie sind expansiv – von den Kreuzzügen des Mittelalters bis zum Kolonialismus der Neuzeit, von der Ausbreitung ihrer Lehren als moralfreier Amerikanismus und gottlosem Sowjetkommunismus bis heute, da sie uns falsche Bedürfnisse oktroyieren und uns zu Käufern ihrer sinnlosen Produkte machen wollen.

Aber, wie gesagt, das ist nicht das Schlimmste. Wir kennen es auch aus unserer eigenen Tradition, dass man manche Texte nicht zu wörtlich nehmen darf. Selbst Worte des Propheten sind manchmal doch nur zu verstehen, wenn man sieht, in welch schwieriger und auswegloser Lage er sie gesprochen hat. Sie aber, sie formulieren ein zweites Buch, sie nennen es das Neue Testament und befördern ʿĪsā ibn Maryam, den letzten der Propheten vor Mohammed (sie nennen ihn Jesus), zu Gottes Sohn. Ihnen und ihren Kindern wird vermittelt, dieser so genannte Neue Bund zwischen Gott und den Menschen sei friedfertig, überwinde die Herrschaft des strafenden Gottes, mache aus den einzelnen Menschen solche, die selbst entscheiden können. Vergebung ist ihr Zauberwort, und Barmherzigkeit. Überhaupt ist die Behauptung der Göttlichkeit eines Sohnes Allahs ein Rückfall in die archaische Vielgötterei, die selbst schon die Juden überwunden hatten.

Die Perfidie eines Gottes, der sich hinrichten lässt, ist nichts anderes als die Vorspiegelung falscher Tatsachen – sie machen noch die Schwäche zu einer gewaltvollen Stärke. Abgesehen davon, was man von einer Kultur halten soll, in der Gott selbst sich nicht gegen die eigene Schöpfung durchsetzen kann und seinen Sohn opfern muss, ein wahrlich archaisches Ritual, wird darin auch deutlich, dass es ihnen nur darum geht, den machtvollen, gewaltsamen, strafenden, unterwerfenden und kompromisslosen Charakter ihres Gottes aus dem älteren Buch zu camouflieren. Selbst ihre eigenen Textzeugnisse können kaum anders als die Maske fallen zu lassen. 

„Ich bin gekommen, um auf Erden ein Feuer anzuzünden; ich möchte nichts lieber, als dass es schon brenne!“(3) – so lassen sie es ihn in ihrem Lukas-Evangelium sagen. Ein anderer dieser Evangelisten heißt Matthäus. Bei ihm heißt es: „Jeder gute Baum hat gute Früchte, ein fauler Baum trägt aber schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum sollt ihr sie an ihren Früchten erkennen.“(4) Es ist offensichtlich eine Religion des Konformismus und der Unterwerfung, sie redet von Gnade, ist aber gnadenlos, sieht man etwa, wie ʿĪsā mit seinen Gefolgsleuten umgeht und von ihnen verlangt, die eigene Familie zu verlassen, geradezu zu verleugnen, um die eigene Botschaft unters Volk zu bringen.

Sie haben die Religion sogar in die Universitäten geholt, um sie ihren Untertanen mit viel Textaufwand nachzuweisen, um all das, was ihr Religionsstifter an aggressiven und expansionistischen Formulierungen gewählt hat, als Metaphern zu verharmlosen, die man nicht zu wörtlich nehmen sollte. Sie sind sogar so perfide, dass sie ihren Religionsstifter gleichzeitig Mensch und Gott sein lassen – Letzteres, um seinen unbedingten Herrschaftsanspruch zu begründen, Ersteres um seine offenkundigen Widersprüche zu rechtfertigen, weil er eben ein imperfekter Mensch sei.

Beliebt ist bei ihnen die sogenannte Bergpredigt(5), ein Text, der im Matthäusevangelium überliefert wurde und aus dem auch der Satz mit den guten und schlechten Früchten stammt. Das Grundmotiv ist dort vordergründig die Feindesliebe und die Barmherzigkeit, die Vergebung, Demut, Gerechtigkeit usw. Den Schwärmern unter ihnen ist dieser Text der liebste, und denen, die sehen können, was wirklich geschieht, ist der Text pure Ideologie, denn am Ende ist es doch nur die Einschwörung auf den Herrschaftsanspruch einer Religion, die am Ende mit ihrem missionarischen Gedanken die Weltherrschaft übernehmen will, was sich bis heute im militärischen Expansionismus Europas und Amerikas zeigt. Gerade Amerika geriert sich als weltweite Obrigkeit, kontrolliert den Kapitalismus ebenso wie die politische Ordnung der Welt. 

Diese Strategie können sie letztlich mit der gleichzeitigen Herrschafts- und Unterwerfungsattitüde eines ihrer ersten Missionare begründen, der an die christlichen Gemeinden im damals noch nicht christlichen Rom schrieb: „Jedermann sei der Obrigkeit untertan, die Gewalt über ihn hat. … Wo eine Obrigkeit ist, ist sie von Gott verordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung. Wer widerstrebt, wird ein Urteil über sich empfangen“(6) – geschrieben schon in einer Zeit, in der man die Herrschaft noch gar nicht innehatte. 

Viel mehr muss man nicht wissen, um zu verstehen, warum und wie es ihnen gelingt, die „feindliche Übernahme“ der ganzen Welt durch das Christentum wie ein „friedliches Angebot“ aussehen zu lassen, nur um uns mit ihrem hedonistischen Lebensstil und ihrer Umdeutung äußerer Herrschaft in individuelle Entscheidungen von den Grundlagen unserer eigenen Kultur zu entfremden. Wenn wir nicht aufpassen, wird das Christentum die Grundlage unseres Lebens, unseres Gemeinwesens und der gesamten Umma unterwandern.“

So, nun ist Schluss damit. Ich will damit Folgendes zeigen: Wer sich auf die Argumente von Thilo Sarrazins neuem Buch einlässt, stößt auf einen Text, der methodisch ungefähr so funktioniert, wie meine Karikatur über das Christentum. Ein solcher Text wäre vielleicht vor einigen Tagen erschienen, wenn nach dem durch Ludwig XIV. im Jahr 1685 erlassenen Edikt von Fontainebleau die protestantischen Hugenotten aus Frankreich nicht in die weiter östlich gelegenen protestantischen Gebiete u.a. Deutschlands geflohen wären, sondern zum Beispiel nach Ägypten. Vielleicht hätte dann ein Thilo Abu Sarrazin ibn Hans-Christian in Kairo ein Buch mit dem Titel „Friedliches Angebot als feindliche Übernahme“ veröffentlicht, um einem arabischen Publikum dabei zu helfen, den Expansionismus und den Kapitalismus des Westens zu erklären. Die Hugenotten hingen der Prädestinationslehre Calvins an – in Gottes ewigem Ratschluss war das aber offensichtlich nicht vorgesehen, aber die Prädestination bezieht sich ja aufs Postmortale.

In eben jenem Stil und methodisch mit eben jener Technik bringt uns der westliche Sarrazin nun bei, wie man den Islam erklären kann. Er dekontextualisiert Sätze, er liest ahistorisch und unkritisch, er interessiert sich nicht für Übersetzungen und er rekombiniert wild das eine mit dem anderen. Was ich hier über das Christentum geschrieben habe, ist alles ein bisschen richtig und zugleich ganz falsch. Es würde auf ein Publikum zielen, das ohnehin weiß, was es hören will, wenn es überhaupt etwas anderes hören will als das, was auf dem Buchtitel steht.

Es lohnt sich kaum, sich mit dem Text auseinanderzusetzen – nicht weil es nicht durchaus Kritisches zum Islam zu sagen gäbe, sondern weil der Text nicht einmal ansatzweise die Augenhöhe erreicht, auf der man anfangen könnte, überhaupt zu argumentieren. Ähnlich war es in dem Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010, in dem ein Hobby-Genetiker Unsinn über genetische Dispositionen verbreitet hat, deren einziger Sinn darin besteht, zu bestätigen, was man schon wusste. Ich habe damals das Argument ernst genommen und zu widerlegen versucht, doch auch damals hat sich der Autor schon als ein selektiver Leser gezeigt, als einer, der sich nicht auskennt, aber nimmt, was er kriegen kann. Das ist heute wieder so. Dass solche Bücher einen solchen Erfolg haben, ist bedenklich genug – und sie werfen kein gutes Licht auf die Literalität unserer Kultur. 

Daniel Pascal Zorn hat in einer schönen Glosse über das neue Buch auf ZEIT-online Sarrazins Methode einen Scharfschützenfehlschluss vorgeworfen: Erst schießen, dann die Zielscheibe um die Treffer herum aufmalen. Das ist Sarrazin gelungen. Waidmannsheil – will man ausrufen. Auf der Jagd sind in der Tat weniger die in den Straßen als die, die sich ihre Ressentiments bestätigen lassen wollen. Sarrazin war und ist ihr oberster Oberförster im Revier.

Armin Nassehi

Verzeichnis der Bibelstellen:
(1) 3Mo 24, 16
(2) 2Mo 21, 22-27
(3) Lk 12,49
(4) Mt 7,17-20
(5) Mt 5-7
(6) Röm 13,1-2

MONTAGSBLOCK /65, 03. September 2018