In wenigen Wochen beginnt die phil.cologne in, okay, leicht zu erraten, Köln. Der eigentlichen Konferenz wird eine „Fachtagung“ vorgeschaltet, bei der ich den Eröffnungsvortrag halten werde. Die Fachtagung hat den Titel „Was ist Identität?“ – was kurioserweise selbst eine Identitätsfrage ist. Die Veranstalter wissen also schon, dass es Identitäten gibt bzw. dass man Identitätsfragen stellen kann. Vielleicht ist es auch nur ein sprachlicher Effekt, dass in Sätzen neben dem Prädikat auch Subjekte und Objekte vorkommen, die begriffliche Bezeichnungen oder Namen tragen. Wie auch immer, darum wird es auf jeden Fall gehen.
Die Informationen über diese Fachtagung stehen erst seit wenigen Tagen auf der Website des Veranstalters, und prompt habe ich innerhalb eines Tages fünf (!) Zuschriften und einen Telefonanruf fast gleichen Inhalts bekommen. Die erste erreichte mich auf Twitter, als Antwort auf meinen Tweet der Veranstaltungsankündigung. Ein, wie sein Selbstbeschreibungsheader ausweist, offensichtlich sozialphänomenologisch ausgebildeter Twitter-User schrieb: „Es kann sich ja auch mal was ändern, dass ein Soziologe eingeladen würde, der auf der Tagung pro nationalstaatliche Identität argumentieren würde. Wäre mal was Neues, Herr Professor.“ Wie sein Twitter-Account ausweist, ist der User sehr aktiv, sorgt sich ums Gemeinwohl und retweetet gerne AfD-Seiten.
Ähnlich rührig waren die vier Mail-Zuschriften, die, allesamt in höflichem, aber besorgtem Ton, dafür einstanden, doch einmal über Identität zu reden, ohne das Eigene schlecht zu machen. Eine Absenderin meinte gar, ob ich als jemand mit einem so fremden Nachnamen nicht besonders sensibel sein müsse dafür, dass „auch wir Deutsche“ ein Recht auf eine eigene Identität hätten. Ich habe zum Prinzip, solchen Zuschriften nicht zu antworten, selbst wenn sie freundlich sind. Es geht nämlich fast immer so aus, dass nicht enden wollende Mail-Ping-Pongs entstehen, oder aber die Besorgten sehen sich in ihrer Sorge bestätigt, weil ich am Ende ihre Sorge nicht teilen kann, vor allem nicht ihre Assoziationsräume. Das ist mir letztens passiert bei einer Zuschrift eines besorgten Bürgers, der auf einen Artikel reagiert hat, in dem ich im SPIEGEL an der intellektuellen Redlichkeit von Rüdiger Safranski gezweifelt habe. Ich habe unvorsichtigerweise geantwortet und sollte mich seiner Auffassung nach für Sätze der ehemaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung Aydan Özoguz rechtfertigen, was mir aus zwei Gründen nicht plausibel erschien. Erstens waren das allzu insuffiziente Sätze der Politikerin, zweitens besteht keine Identität zwischen ihr und mir, sondern eine Differenz: Wir sind zwei unterschiedliche Personen. Die Identität, die der besorgte Bürger aber mitsah, war wohl diejenige, dass unsere Nachnamen für ihn eine gewisse Identität ausdrückten.
Kurz und gut – fast wäre ich geneigt gewesen, der Zuschrift der durchaus höflichen Dame zu antworten, die meine besondere Kompetenz für Identität auf den differenten Nachnamen zurückführt – und zwar mit dem Hinweis darauf, dass mein erster Vorname nicht nur eine persische Wurzel hat und dort „Beschützer“ heißt, sondern auch im Germanischen im Gebrauch war und auf „irmin“ zurückgeht, was – zugegebenermaßen schmeichelhaft – „gewaltig“ und „heldenhaft“ bedeutet. Ob Armin zugleich auch auf die latinisierte Form des Cheruskerfürsten Herrmann, also auf „Arminius“ zurückgeht, darüber streiten sich die Gelehrten. Übrigens, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wäre mein zweiter Vorname noch geeigneter, um eine Antwort auf die besorgte Identitätsrechtlerin zu begründen. Mein zweiter Vorname lautet Michael. Der Erzengel Michael trat bekanntlich in der Offenbarung des Johannes als Bezwinger des Satans auf, als Drachentöter. Ich möchte den Hinweis nicht fehlen lassen, dass das eigentlich ganz gut zur germanischen Bedeutung von „irmin“ passt, also zu meinem ersten Vornamen. Ob meine Eltern sich dabei etwas gedacht haben, womöglich sogar dies, kann ich sie nicht mehr fragen. Ich glaube es nicht, aber vielleicht wirkt es auch ohne die Intention.
Entscheidender für meine dann doch nicht erfolgte Antwort wäre aber gewesen, dass der Hl. Michael seit dem Sieg Ottos I., König des Ostfrankenreiches, später Romanorum Imperator, auf dem Lechfeld im Jahre 955 gegen die Ungarn als Schutzheiliger des ostfränkischen Reiches, später Deutschlands galt. Den Eingang des Leipziger Völkerschlachtdenkmals von 1813 ziert eine Steinskulptur des Hl. Michael in martialischer Rüstung.
„Was ist Identität?“ – fragt die Fachtagung. Die Zuschriften, die ich erhalten habe, wissen es bereits. Identität ist etwas, das so ist, wie es ist. Es ist mit sich selbst eins. Die Identität behauptet einen Seinskern, etwas, das man nicht weiter befragen muss. Deshalb sind Namen auch so identitätsstiftend, und deshalb schließt man so gerne von Namen, Begriffen und Bezeichnungen auf das Benamte, das Begriffene und das Bezeichnete, statt auf den Prozess des Namengebens, des Begreifens und Bezeichnens. Ganz Moderne stellen gerne von Identität auf Differenz um – also darauf, dass es auch noch andere Identitäten gibt. Ob das in jedem Falle etwas ändert, sei dahingestellt.
Aber ich will hier nicht meinen Vortrag über Identität vorbereiten, sondern nur darauf hinweisen, dass all die behaupteten Identitäten das Ergebnis von kulturellen Bezeichnungsprozessen sind. Und die Verweisungsräume sind geradezu beliebig. Kann ich etwas über mich herausfinden, wenn ich die Etymologie und Historie meiner beiden Vornamen genauer beschreiben kann? Nein, das kann ich nicht, aber ich könnte mich hineinsteigern in das, was solche Zeichenverweisungen ergeben. Ich bin kein heldenhafter Drachentöter, nicht mal ein feiger Drachentöter. Und bin ich deutscher, wenn meine Namen geradezu in die Nationalgeschichte eingeschrieben sind? Nein, natürlich nicht.
Was ich bin, ist Ergebnis einer Praxis, zu der auch gehört, dass wir die Dinge mit Namen und Begriffen festschreiben, die sich dann praktisch bewähren müssen und im Übrigen auch praktisch verändern. Übrigens: Die Behauptung der ehemaligen Integrationsbeauftragten, so etwas wie eine „deutsche Kultur“ sei jenseits der deutschen Sprache nicht identifizierbar, ist genauso intelligent wie die Behauptung eines festen Identitätskerns, der letztlich nicht zur Debatte steht. Entscheidend ist also nicht, ob es eine deutsche Kultur gibt oder ob, höflich gerichtet an den „Herrn Professor“, ein Soziologe nicht auch einmal „pro nationalstaatliche Identität“ argumentieren könne. Entscheidend ist die Frage, welcher Art Identitätszumutungen zu welchem Behufe wo auftreten und warum derzeit manchmal diese Identitätszumutungen wichtiger scheinen als operative Fragen und Lösungen jenseits von Identitäts-, Zugehörigkeits-, Einschluss- und Ausschlussfragen. Dazu wird es einige soziologische Antworten geben, dritte Antworten jenseits pro oder contra nationalstaatlicher Identitäten. Und ich werde argumentieren, dass Identitäten nur dann als letztes Wort gelten können, wenn man sich wirklich hineinsteigert. Das gilt übrigens auch für die Behauptung totaler Differenz, also des Verzichts auf Identitätszumutungen, ohne die die soziale Welt nicht auskommt. Wenn man sich ausreichend hineinsteigert, müssten einem schon Namen als zu viel Identität erscheinen – man denke etwa an die Versuche, manchen Namen sogar die Zumutung geschlechtlicher Identifikation auszutreiben, oder besonders viel in die Bezeichnungen hineinzulegen.
Das mit den Namen ist ein verführerisches Spiel – ich kenne inzwischen altersbedingt viele Leute, die in ein Alter kommen, in dem sie sich, mit der Endlichkeit ihrer verbleibenden Zeit konfrontiert, für ihre Herkunft und die Genealogie ihrer Blutsverwandtschaft interessieren. Ich finde das ebenso skurril wie die Namensprovenienz. Entlarven kann man dieses Spiel am besten damit, dass man vorführt, dass man immer etwas findet, wenn man nur entsprechend sucht. Spielen wir es durch. Meine Namensherkunft jedenfalls sollte meine Fundierung im Deutschen ausreichend bestätigt haben. Wenn ich etwa an meinen Freund und Mitherausgeber des Kursbuchs Peter Felixberger denke, so weist sein Vorname tatsächlich auf eine seiner stärksten Eigenschaften hin. Peter kommt vom griechischen πέτρος (Pétros), also Fels. Und Peter ist tatsächlich jener Fels bei uns, ohne dessen Ruhe wir unsere Kursbücher niemals zum Druckzeitpunkt fertigstellen könnten.
Ein neuer Mitarbeiter hat ihn letztens aus Versehen Felix genannt. Peter hat sich darüber echauffiert, dabei ist er wirklich ein glücklicher Mensch, wenn er wie ein Fels im Durcheinander steht. Unser Verleger Sven Murmann passt übrigens auch gut zu uns: Sven stammt vom altnordischen „sveinn“ und heißt: junger Krieger. Das ist sehr plausibel. Passt übrigens zum heldenhaften Drachentöter und braucht einen starken Fels!
Ich höre jetzt auf damit. Ich hoffe, es ist deutlich geworden, wie lächerlich die Suche nach solchen Identitätskernen ist, die nach den eigentlichen Bedeutungen suchen. Unsere Konfliktlagen scheinen derzeit so unübersichtlich zu sein, dass immer mehr nach unverrückbaren Kernen gesucht wird, nach einer Ordnung, die für sich steht, nach etwas, das mit sich eins ist, identisch eben. Wer nach so etwas sucht, wird es finden, weil er danach sucht. Suchen wir besser nach den empirischen Bedingungen dafür, wie viel Identität wir uns zumuten müssen und wie viel Nichtidentität wir uns zumuten können. Oder umgekehrt.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /57, 07. Mai 2018