Pressegrosso im Frankfurter Hauptbahnhof. Mein Zug hat Verspätung. Ich stromere lustlos herum. Plötzlich fällt mir ein junger Mann vor einem Regal auf, der sich immer wieder verstohlen umschaut. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass er “politisch korrekte” Magazine herauszieht und sie frontal vor den “bösen” Mainstream-Magazinen wieder einordnet. So verdeckt das Greenpeace Magazin schnell die Wirtschaftswoche, die natur das Manager Magazin. Innerhalb weniger Minuten sind die Cover einer ganzen Wand zwangskorrigiert. Die großen Platzhirsche sind aufmerksamkeitsökonomisch in die zweite Reihe geraten. Und damit unsichtbar. Denn nur was vorne steht, wird gekauft. Ein Vorteil, den sich die Flughafen- und Bahnhofshändler sonst gerne bezahlen lassen. Jetzt hat dieser junge Gutmensch die Machtordnung im Regal umgedreht.
Mag sein, dass der Weltenlauf davon nicht abhängt, aber irgendwie geht mir der kurze Augenblick an diesem eiskalten Frühlingsanfangsmorgen nicht aus dem Kopf. Denn was uns den jungen Mann erstens sympathisch macht, ist sein subversiver, letztlich aber doch wirkungsloser Don-Quixote-Widerstand gegen die penetrante Dominanz von Großmedien. Eine Macht, die von oben kommt. Eine große Parade der Leviathane. Wohlfeil als Cover in einer Verkaufswand geordnet.
Zweitens ist es ein kleiner Akt der Selbstermächtigung. Wobei? Ich stelle mir gerade vor, wenn ein Neonazi die Junge Freiheit oder die Sezession vor Focus & Co. platziert hätte. Das wäre mir zweifellos nicht sympathisch gewesen. Ich hätte ihm wahrscheinlich unterstellt, dass er ideologisch auf der falschen Seite steht. Hätte er aber nicht auch das gleiche Recht auf Widerspruch in Anspruch nehmen dürfen? Vielleicht würde ich ihn sogar ansprechen oder einen Kleintumult um ihn herum inszenieren. Mit welchem Recht aber dürfte ich seine Eigensinnigkeit in der Vielfalt beschneiden? Oder anders gefragt: Müssen wir als Demokratie es nicht geradezu aushalten, mit anderen Perspektiven und Gegenwarten konfrontiert zu werden? Und darf die Welt nicht alles sein, was der Fall ist? Auch wenn dies rechte Spinner für sich reklamieren.
Blick zurück nach vorn, 14. Januar 1976, Schnee liegt in der Luft: In einer Vorlesung in Paris entwickelt der französische Philosoph Michel Foucault ein Argument, das unserem jungen Helden und seiner Generation die argumentativ so notwendigen Emanzipations- und Widerstandsweihen verleiht – die Metapher des Netzes: „Die Macht übt sich als Netz aus, und über dieses Netz zirkulieren die Individuen nicht nur, sondern sind auch stets in der Lage, diese Macht zu erleiden und auch sie auszuüben; sie sind niemals die träge oder zustimmende Zielscheibe der Macht; sie sind stets deren Überträger. Mit anderen Worten, die Macht geht durch die Individuen hindurch, sie wird nicht auf sie angewandt.“ Der Einzelne steht der Macht also nicht mehr gegenüber, sondern das Individuum mit seinen diskursiven Aktionen und Gesten ist Teil der Macht. Foucault verlagert Macht und Gewalt von oben nach unten, verteilt sie auf die Vielen, die wiederum als Überträger fungieren.
Der unbekannte junge Mann wird deshalb weiter seine kleinen Kreise ziehen dürfen. Und in dieser einen Sekunde im Frankfurter Bahnhofstrubel, in der er zufrieden auf sein Werk einer manipulierten Magazinwand blickt, ist er im Foucault‘schen Sinne Teil der politischen Selbstorganisation geworden. Mächtig ist er urplötzlich, weil er sich normativ, moralisch-ethisch und kommunikativ nicht mehr disziplinieren lässt. Kurz gesagt: weil er sich nicht mehr nur regieren lässt, sondern einen Weg findet, sich subversiv an den Gegenwarten zu beteiligen. Oder besser gesagt: Macht auszuüben, auch wenn es keiner bemerkt. Wäre da nicht ein lustlos herumstromernder Bahnhofsanonym gewesen, der ihn beobachtet hat. Und daraufhin das Kursbuch im Regal etwas in die Breite aufgefächert hat.
Peter Felixberger
MONTAGSBLOCK /54, 26. März 2018