Mein vorletzter Montagsblock präsentierte ein Buch, der letzte gemalte Kunst, jetzt empfehle ich eine Gewissensprüfung.
Ignatius von Loyola, im 16. Jahrhundert Begründer des Jesuiten-Ordens, empfiehlt in seinen Exerzitien eine allgemeine Prüfung des Gewissens „um sich zu reinigen und besser zu beichten“. Gewissen, das ist so etwas wie der Abgleich zwischen dem Sollen und dem Tun oder die Prüfung, woher jener Willen kommt, dem ich mich unterwerfe – bezogen auf die Gedanken. Ignatius schreibt:
„Ich setze voraus, daß es dreierlei Gedanken in mir gibt: solche, die mein eigen sind und allein meiner Freiheit und meinem Willen entspringen, während die beiden anderen von außen kommen: der eine vom guten, der andere vom bösen Geist.“
Das ist eine wunderbare Sentenz – nicht weil dort sehr erwartbar der ewige Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen im Gewissen ausgetragen werden soll, sondern weil Ignatius nicht einfach von einem Tun spricht, sondern sehr deutlich beschreibt, dass ich Gedanken „in mir“ vorfinde. Man kann das abtun als religiöse Selbsterfahrung und sie deshalb nicht für zeitgemäß halten. Man kann sie aber auch als epistemologische oder kognitive Selbsterfahrung lesen (was für Jesuiten womöglich dasselbe ist). Ignatius findet Gedanken vor, wird von dem, was er denkt, überrascht, weist also auf einen blinden Fleck hin. Das ist eine Erfahrung, die moderne Bewusstseinstheorien bestätigen – dass die Bedingungen für Selbsterfahrung vorausgesetzt werden müssen (Kant), dass die unmittelbare Erfahrungsgegenwart nicht gegenwärtig sichtbar wird (Husserl), dass jede Unterscheidung zunächst eine Unterscheidung erster Ordnung ist (Luhmann), die Bedeutung stets eine verschobene Bedeutung (Derrida) oder – später in der Hirnforschung – dass das Gehirn sich beim Wahrnehmen nicht selbst beobachten kann.
Die Freiheit, von der Ignatius hier spricht, ist also eine verschobene Freiheit, nicht Gedanken, die ich mir mache, sondern, die es „in mir gibt“. Dabei ist meine „Freiheit“ und mein „Willen“ nur einer von drei Faktoren, die meine Gedanken und Urteile bestimmen – neben dem guten und dem bösen Geist von außen.
Braucht es das? Ja. Es verweist darauf, wie schwierig es ist, in diesen aufgeregten Zeitläuften die Quelle jener Gedanken zu unterscheiden, die es „in uns“ gibt. Die drehbuchartige Reaktionsweise, die allzu gleichförmige Reaktionen auf Reize produziert – nicht nur im politischen Raum –, ist oft genug Anlass, darüber nachzudenken, welche Art Gedanken wir so in uns vorfinden. Die Exerzitien des Ignatius jedenfalls werden uns in dem zitierten Fall nicht unbedingt dazu bringen, genau zwischen jenen Gedanken, die von außen kommen und entweder vom guten oder vom bösen Geist geprägt sind auf der einen Seite und unseren eigenen Gedanken und unserem eigenen Willen auf der anderer Seite zu unterscheiden. Es geht also nicht darum, so etwas wie eine authentische Selbsterfahrung hinzukriegen und den eigenen Gedankenhaushalt zu optimieren. Was Ignatius vorschlägt, ist das Gegenteil einer Mischung aus authentischer und genialischer Selbsterhöhung, es ist Selbstdistanzierung.
Was wir derzeit gewärtigen, ist doch ganz offensichtlich eine Art Kulturkampf zwischen den Guten und den Bösen, zwischen fast geschlossenen Orientierungen, eine Hermeneutik des Verdachts, die sofort jede Äußerung in Schubladen einteilt. Ignatius will keinen Diskurshelden etablieren, aber durchaus die Tugend der Selbstdistanzierung. Von außen kommen die Zumutungen für den Gedanken: „der eine vom guten, der andere vom bösen Geist.“ Also: Kulturkampf. Auf der richtigen Seite stehen. Selbstgerechtigkeit. Etablierung heiliger Einfalt. Man muss nur die schnellen, schnappgeatmeten Reaktionen auf die Diskussion um die Essener Tafel oder die jüngsten Unbeholfenheiten von Uwe Tellkamp lesen. Kaum eine Alternative zum bösen oder guten Geist! Und dann auch noch in der zeitlich und technisch niedrigschwelligen Form der sozialen Medien, die dem guten und dem bösen Geist unglaubliche Resonanzräume bieten.
Vielleicht möchte Ignatius den eigenen Gedanken und den eigenen Willen als das ausgeschlossene Dritte des guten und des bösen Geistes einführen, etwas, das erst Gedanken gebiert, wenn man sich dieser Unterscheidung entzieht, sich von ihr distanziert. Ignatius will, dass wir die Dritten sind. Das ist keine schlechte Position, vor allem ist es keine, die sich einfach so herstellen lässt, sondern die ermöglicht werden muss, damit so etwas „in mir“ stattfindet. Das ist eine Übung, die sich auch ins Säkulare übersetzen lässt, gewissermaßen in eine Logik, die die Zweiwertigkeit von Gut und Böse zunächst suspendiert und in der man in der Distanzierung von dem Gedanken überrascht werden kann, der dann mein eigener ist.
Beim Sprechen machen wir bisweilen diese Erfahrung. Wer spricht, hat das Gesagte, oder besser: das noch nicht Gesagte, fast nie vorher im Bewusstsein repräsentiert, sondern kann sich selbst hören und überrascht werden von dem, was er oder sie sagt. Dieses Überraschungsmoment dürfte dann am ehesten eintreten, wenn man nicht einfach den guten oder den bösen Geist im Diskurs reproduziert oder bestätigt, sondern abweicht – und dann vom eigenen Gedanken, von etwas Drittem überrascht wird. Vielleicht kommt man auch erst dann zu Alternativen, die sich der Langweiligkeit des Guten und des Bösen entziehen. Das Alternative ist übrigens Thema des Kursbuchs 194, das im Juni erscheinen wird.
Ignatius‘ Exerzitien übrigens haben eher auf das Medium des Schweigens als auf das Sprechen gesetzt.
Armin Nassehi
MONTAGSBLOCK /53, 12. März 2018