MONTAGSBLOCK /47

Sigmar und die Kleistersinger von Nürnberg

Dieses 50. Wochenende des Jahres war bemerkenswert und von Wagnerianischer Dramatik. Es wurden zwei politische Opern gegeben. In Nürnberg hat die CSU ihren Parteitag abgehalten und eine merkwürdige Versöhnungsinszenierung aufgeführt. Die Oper heißt: „Die Kleistersinger von Nürnberg“. Und Sigmar Gabriel, geschäftsführender Außenminister, lässt sich im SPIEGEL mit einem Grundsatztext vernehmen. Diese Oper heißt: „Sigmar“. Was verbindet die beiden Ereignisse?

Die CSU-Inszenierung ist ähnlich wie Wagners Vorlage voller Intrigen und Ränke, aber es wird nicht einmal der Versuch gemacht, so etwas wie ein wenigstens ansatzweise zufriedenstellendes Wettspiel zu inszenieren. Anders als die „Meistersinger“ biedern sich die „Kleistersinger“ eher feige jener Stimmung an, die sie vorgeblich bekämpfen wollen. Die Rede von Markus Söder, wahrlich kein Walther von Stolzing, hat zwar durchaus angemessene sozial- und strukturpolitische Anteile gehabt. Aber Markus ist kein Walther, der sich gegen die bestehende Ordnung auflehnen könnte. Ihre Energie hat die Rede vor allem aus einer allzu billigen Instrumentalisierung des Migrationsthemas bezogen. So sehr es auf diesem Feld Defizite bei der angemessenen Diskussion von Integrations-, Kapazitäts- und Begrenzungsfragen gab und gibt, so sehr wurde hier auf eine unfassbar durchsichtige Weise der emotionale Aspekt des Migrationsthemas dazu verwendet, den inneren Schulterschluss hinzubekommen. Wer den rechten Rand, den es nach dem alten Strauß-Theorem rechts der CSU nicht in wählbarer Form geben darf, so einfangen will, wird sich eher lächerlich machen. Denn auch in Bayern wird eine im Ganzen durchaus richtige Integrationspolitik betrieben. Getan wird aber etwas anderes, nämlich mit finanziellen und organisatorischen Mitteln durchaus wirksam dafür zu sorgen, dass Integration von Flüchtlingen gelingen kann. Gerade vor diesem Hintergrund das Thema so schamlos zu verwenden, um emotionalen Zusammenhalt zu stiften, ist wirklich kaum zu glauben. Man muss – um im Wagner-Bild zu bleiben – kein Beckmesser sein, um hier eine Strategie zu entdecken, die jene politische Krise, die die staatstragenden Parteien zu überwinden vorgeben, eher verschärfen werden. So wird es der bayerischen Union nicht gelingen, die legitime und notwendige Diskussion um einen modernisierten Konservatismus aus dem Kulturkampfmodus herauszuholen. Markus ist tatsächlich kein Walther.

Und Sigmar ist kein Siegfried. Wie Letzterer, der auszog, das Fürchten zu lernen, sich am Ende gegen die Götter und die Welt befreit hat, kommt ersterer nicht einmal in Sichtweite der Furcht- und Respektlosigkeit des Ersteren. Mit seinem SPIEGEL-Essay wird er keine Brünhilde wachküssen können, die ihm die Möglichkeit geben könnte, ein Held zu sein. Im Gegenteil. Eher zaudernd schlägt Sigmar Gabriel vor, eine „Heimat“- und „Leitkultur“-Debatte zu führen. Dagegen ist nichts Prinzipielles zu sagen, zumal Gabriel darauf hinweist, die beiden Begriffe neu zu kontextualisieren und sie modernisieren zu wollen. Aber auch hier wird nur der bestehende Kulturkampf weitergeführt. Gabriel ist auf dem richtigen Pfad, wenn er betont, dass die Konzentration mancher SPD-Strategie auf den urbanen akademischen Dekonstruktionsdiskurs einer sich universalistisch gerierenden und darin durchaus selbstgerechten Trägergruppe nicht überzeugen kann. Auf dem ganz und gar richtigen Pfad ist Gabriel, wenn er an das historische Versprechen der Sozialdemokratie erinnert: sozialer Aufstieg und soziale Marktwirtschaft. Aber um – wieder im Wagnerschen Bild – ein Held zu werden, hätte er die Opposition des bestehenden Kulturkampfes nicht einfach weiterführen dürfen. Seine Kritik des postmodernen „anything goes“ ist ebenso altmodisch wie folgende Behauptung auf einem Fehlschluss basiert: Der verhinderte Siegfried suggeriert, dass jene angeblichen Postmodernismen wie „Diversität, Inklusion, Gleichstellung, Political Correctness“ schon deshalb problematisch seien, weil sie Zielscheibe der Neuen Rechten geworden seien. Gabriels Behauptung, all das sei nicht die „eigentliche“ Moderne, ist falsch.

Das Problematische an all diesen Themen ist, dass sie geradezu logische Konsequenzen von Modernisierungsprozessen sind. Sie lösen Versprechen der Moderne radikal ein – und produzieren gerade dadurch Unbehagen und auch offenkundige Probleme. Man kann diese nicht einfach mit sozialdemokratischer Nostalgie abkoppeln und loswerden, wie auch die Union die rechten Invektiven kultureller und ethnischer Einheitlichkeit nicht dadurch modernisieren kann, dass sie sie gegen allen Augenschein gegen die eigene Praxis wendet.

Es ist sicher kein Zufall, dass beide Alphamänner ihrer Parteien das akademisch kontaminierte Feuilleton zum Gegner erklären – der verhinderte Walther explizit, der verhinderte Siegfried implizit. Und sie haben ja beide nicht ganz unrecht, denn oftmals ist die angedeutete Textsorte tatsächlich allzusehr Partei im Kulturkampf zwischen univeralistischen und partikularistischen Geltungsansprüchen. Die Grautöne sind bisweilen unterrepräsentiert. Aber diese einfache Gegenrede führt ja nur den Kulturkampf fort.

Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass Beide ihre stärksten Passagen bei den sozialpolitischen Fragestellungen haben. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass hier wirklich eine offene Flanke ist, an der man weiterdenken muss und an der sich die Bezugsprobleme eher sozialdemokratischer und eher konservativer Politikprogramme treffen könnten. Aber beide führen das Flüchtlings- und Migrationsthema letztlich als den Katalysator an, an dem sie ihre eigene Handlungsfähigkeit testen bzw. generieren. Der eine macht es schamlos und offen strategisch, beim anderen ist es der elephant in the room, auf den sich das Unbehagen unsichtbar aber offensichtlich richtet.

Aber, das muss man zugeben: Sigmar ist näher dran, ein Siegfried zu werden, als Markus ein Walther. Sigmar Gabriel sieht genau, dass sich die Bezugsprobleme verschieben. Und er sieht genau, dass der derzeitige Kulturkampf durchaus auch auf der Seite jener Universalisten ein Problem hat, die in provokativer Selbstgerechtigkeit immer schon von ihrer eigenen Auserwähltheit überzeugt sind. Deren Problem ist übrigens nicht die dekonstruktivistische Technik der Selbstkritik der Rede, sondern das oftmals unerträgliche Relativieren und Beschwichtigen. Was manchmal wie ein Sprechverbot aussieht, ist eher mangelndes Denkvermögen, eine falsch verstandene Anwendung dessen, was man Dekonstruktion nennt, eine geradezu verwahrloste Form des relativierenden Denkens.

Deshalb ist es richtig, die Frage zu klären, dass es in der Gesellschaft auch noch andere Lebenslagen gibt als jene bildungsnahen, akademischen, urbanen, optionsreichen, ästhetisierten und experimentellen Trägergruppen. Nur darf davor nicht vergessen werden, dass die Rückkehr zu jener „eigentlichen“ Moderne, die Gabriel als eine sozialdemokratische Moderne diskutiert, zu kurz gedacht ist. Das Problem ist ja gerade, wie sich das Verhältnis von Ökonomie und Politik, die Lebbarkeit neuer Arbeitsformen, das Verhältnis von wirtschaftlicher Dynamik und stattlichen Eingriffen, die Struktur eines Wohlfahrtsstaates, der noch immer mit den Kontinuitäten der alten Industriegesellschaft rechnet, entwickeln werden. Das lässt sich weder mit Heimat- noch mit Leitkulturchiffren einholen. Ob es so etwas wie kulturelle Erwartungssicherheit geben wird und ob sich Menschen in einer solchen Gesellschaft heimisch fühlen werden, hängt davon ab, ob es in den nächsten Jahren gelingt, ein Organisationsarrangement aufzusetzen, das einer Moderne angemessen ist, die beide Protagonisten noch nicht sehen wollen: komplexer, schneller und unkontrollierbarer als alles, was das goldene Zeitalter (Hobsbawm) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kannte.

Die von dem einen „Postmoderne“ genannten, von dem anderen spöttisch für „links“ gehaltenen Diskurse sind nicht wirklich das Problem dieser Gesellschaft. Diese Denkungsarten bewegen sich leider immer noch in den Bahnen vorbereiteter Alternativen und Kulturkämpfe. Ich will das Wagner-Bild nicht übertreiben, aber beide: Walther in den Meistersingern und Siegfried in der vorletzten Oper des Rings, wurden Helden in ihrer Dramaturgie dadurch, dass sie sich den vorgegebenen Unterscheidungen entzogen haben. Beide führen vor: tertium datur! Aus der politischen Klemme wird es nur Auswege geben, wenn die unterschiedlichen politischen Akteure aus den gewohnten Unterscheidungen ausbrechen. Es wird dafür mehrere tertia geben müssen.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /47, 18. Dezember 2017
Geänderter Text: Dem Autor ist in der Vorversion ein Fehler unterlaufen: Der edle Ritter heißt natürlich Walther von Stolzing, nicht Veit. Veit (Pogner) ist eher ein Miesling im Spiel ...