MONTAGSBLOCK /41

Der Montagsblock erscheint montags in der Frühe – nomen est omen. Geschrieben wird er sonntags. Das fällt üblicherweise nicht auf, diesmal schon. Während dies geschrieben wird, sind die Wahllokale noch fast fünf Stunden geöffnet.

Kommentatoren bemerken, dass diese Bundestagswahl eine der wichtigsten seit Bestehen der Bundesrepublik sei. Was auch immer das heißt – mit dem Einzug einer rechtsradikalen, zum Teil offen faschistoiden Partei wird sich in der nächsten Legislaturperiode vieles ändern. Es werden im Parlament Dinge sagbar sein, die es zuvor nicht waren. Und es wird zu schwierigen, womöglich tanzähnlichen Formen des Nähe-/Abstandsmanagements kommen. Der Rechtsstaat erfordert es, die zu erwartende Fraktion genauso zu behandeln wie jede andere auch – ausgestattet mit der Autorität einer Wahl und mit verfassungsbewehrten Rechten. Die politische Klugheit dagegen erfordert es, die zum Teil offen verfassungsfeindlichen Vorhaben und Gesinnungen der zu erwartenden Fraktion politisch zu bekämpfen. Strategische und taktische Überlegungen erfordern es, Entscheidungen darüber zu treffen, auf wie viel Normalität Entsorgungsfantasien hoffen dürfen, die Personen, historische Reflexion und eingeführte zivilisatorische Standards im Blick haben. All das ist offen – und man wird nicht müde werden, zu betonen, dass die Demokraten nun zusammenstehen müssen und dass man sich von jenem ungefähr Zehntel bis Achtel der Abgeordneten die Agenda nicht bestimmen lassen wird. Die erwartbaren Sätze der nächsten Wochen lassen sich leicht vorhersehen.

Aber es lohnt sich schon, an der Zäsur zwischen Wahlkampf und neuer Legislatur kurz zurückzublicken. Mit die eindrücklichsten Bilder des Wahlkampfes waren wohl diejenigen eines geradezu unbändigen, ja, man muss es so sagen: ekelhaften Hasses gerade auf Veranstaltungen mit der Bundeskanzlerin – übrigens nicht nur im Osten der Republik, sondern auch etwa vor einigen Tagen zum Wahlkampfabschluss auf dem Münchner Marienplatz. Man kann die stoische Ruhe, mit der Angela Merkel solche Anwürfe fast wortlos ertragen hat, einerseits bewundern. Man kann darin aber auch den Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit sehen, wie man mit diesen Emotionen umgeht, deren O-Töne, die durch das Netz wabern, an Widerlichkeit kaum zu überbieten sind.

Wie ein angemessener Umgang mit diesen Rechten aussehen sollte, ist bis heute unklar und kann in vielerlei Hinsicht als gescheitert angesehen werden.

  • Was öffentlich sehr breit diskutiert wurde, ist, dass man öffentlich nicht so breit über die AfD debattieren sollte, um ihr das Wasser abzugraben. Die Paradoxie dieses Versuchsaufbaus ist unvermeidbar.
  • Zugleich hoffen viele, durch permanente Beschallung mit den Invektiven der AfD-Wahlkämpfer zur Demaskierung dieser Leute beizutragen. Weit gefehlt!
  • Manche verlegen sich darauf, die Argumente der Rechten nach ihren logischen Konsistenzen hin zu befragen, um wenigstens pädagogisch Dritten vorzuführen, mit wem man es zu tun hat. Das ist akademisch löblich, aber politisch wenig ergiebig, als hielten sich politische Überzeugungen an Grenzen des logisch Sagbaren oder die Konsistenz ihrer Gründe.
  • Andere nehmen die Anliegen potenzieller Wählerinnen und Wähler der AfD so ernst, dass sie ihnen sprachlich manchmal allzu nahe kommen. Das reicht von der semantischen Kraftmeierei der CSU (bei gleichzeitiger operativ durchaus gelungener Integrationspolitik, die aber eher beschwiegen wird) und den Fantasien, über Abschiebungen das Mengenproblem lösen zu können, bis hin zu Linken, für die die Affekte vieler AfD-Sympathisanten schon deshalb legitim erscheinen, weil man darin ein antikapitalistisches Motiv bedienen kann. Diese Strategien haben manche Sprechweisen der AfD in gewissem Maße nobilitiert – wenn auch zum größten Teil ungewollt.
  • Wieder andere haben ihre Wahl- und Parteiprogramme so aufgestellt, als sei nichts gewesen. Diejenigen, die die Regierung wieder stellen werden (nach allem, was man einige Stunden vor Schließung der Wahllokale weiß), formulieren ein „Weiter-So“, und die bisherigen Juniorpartner machen einen Gerechtigkeitswahlkampf, der die Konflikte innerhalb der Gesellschaft kaum erreicht.

In einem bemerkenswerten Interview in der Süddeutschen Zeitung* hat der Leipziger Soziologe und Ungleichheitsforscher Holger Lengfeld gezeigt, dass potenzielle AfD-Wähler keineswegs ökonomisch abgehängt sind, sondern kulturell. Auch andere Untersuchungen der letzten Zeit zeigen, dass die Angst vor sozialem Abstieg oder materieller Unsicherheit nicht das ist, was die Deutschen derzeit in Atem hält – trotz nachgerade einfältiger sozialwissenschaftlicher Angebote über eine „Abstiegsgesellschaft“, die es in dieser Form nicht wirklich gibt. Dass es ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit gibt, ist sicher. Sicher ist auch, dass hier viel Nachhol- und Korrekturbedarf besteht. Aber das ist nicht der Grundkonflikt, um den es derzeit geht – zumal gerade das Angebot der AfD ökonomisch alles andere als für die sogenannten „kleinen Leute“ gemacht ist.

Der künftige Umgang mit den Rechten im Parlament muss sich gar nicht primär an diese wenden. Es steht zu hoffen, dass die Leute, die nun in den Bundestag einziehen, den Organisationserfordernissen parlamentarischer Arbeit gar nicht gewachsen sein werden – organisatorisch, programmatisch, kognitiv. Der Umgang mit den Rechten muss sich an die etablierten politischen Kräfte selbst richten.

Um es nur kurz und formelhaft zu sagen: Kulturell abgehängt zu sein, bedeutet vor allem, dass es keine stimmigen Geschichten über die eigene Lebenslage gibt und dass sich die unvermeidlichen Kontingenzen des Alltags nicht in solchen Geschichten über die eigene Lebenslage „aufheben“ lassen. Nimmt man nur die früheren Milieus der beiden Volksparteien (wie sehr sie nun teils auch geschrumpft sein werden), so war deren früherer Erfolg nicht nur einer, der sich in Heller-und-Pfennig-Kategorien von Gerechtigkeit messen lässt, sondern darin, welche Geschichten ihre Anhänger von sich erzählen konnten. Die große Leistung der Sozialdemokratie war es, Aufstiegsgeschichten erzählen zu können, Chancen und Möglichkeiten für Bevölkerungsgruppen anzubieten, die das in den Generationen zuvor nicht hatten. Der materielle Erfolg war dabei nur eine Seite, der narrative, der semantische Erfolg der andere. Man konnte sich kulturell verorten, hatte ein Identifikationsangebot und war gesellschaftlich identifizierbar.

Auf konservativer Seite gab es etwas Ähnliches: Bürgerliche Schichten konnten nach aller Diskreditierung der Geschichte zuvor ein fast postnationales, wenigstens nicht mehr nationalistisches Identitätsangebot wahrnehmen – nicht umsonst waren es oftmals konservative Politiken, die Deutschland in Richtung Westen und Europa gerückt haben.

All diese Verdienste sind historisch wichtig – aber sie verlangen nach Übersetzung. Wenn man auf kulturell Abgehängte trifft, dann muss man ihnen ein Angebot machen – und zwar ein Angebot, das die konkreten Lebenslagen der Adressaten im Blick hat. Hier hätten die großen politischen Spieler vielleicht endlich wieder die Möglichkeit, sich produktiv zu unterscheiden. Das, nicht eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den rechten Invektiven und ihrem nachgerade unberührbaren Personal wird dafür sorgen können, dass sich ein Streit und ein Wettbewerb über legitime Alternativen etabliert. Wenn das gelingt, bedarf es der Alternative, die sich selbst so nennt, nicht mehr. Die Auseinandersetzung mit der AfD wird also heißen müssen: an konservativen und sozialdemokratischen, liberalen und grünen Geschichten zu arbeiten, die in dieser postkorporatistischen, pluralistischen, globalisierten Welt funktionieren können.

Es gibt so etwas wie eine Grundcodierung des Politischen: Die Dinge ordnen sich danach, ob man etwas durchsetzen kann oder nicht, ob man Regierung ist oder Opposition. Beide Seiten brauchen einander, sonst kommt es zu einer Opposition von außen. Die gemeinsame Aufgabe der Demokraten wird es sein, nicht zu viele Gemeinsamkeiten vor sich herzutragen, sondern legitime Alternativen anzubieten. Dann muss man sich die Agenda nicht von jenen Unsagbaren diktieren lassen, die wir nun noch öfter hören werden.

http://www.sueddeutsche.de/kultur/abgehaengte-bevoelkerungsgruppen-afd-waehler-sind-nicht-wirtschaftlich-sondern-kulturell-abgehaengt-1.3675805

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /41, 25. September 2017