MONTAGSBLOCK /39

Es ist Sommer, und ich hatte das Vergnügen, zehn Tage mit einem Chor nach Italien in ein ehemaliges Kloster in die Nähe von Lucca zu fahren, um an einigen Stücken zu arbeiten, die im Herbst zur Aufführung kommen werden. Es waren sehr angenehme Leute dabei – manche davon kannte ich vorher, manche nicht. Wir haben nicht nur Musik gemacht, sondern auch, was man sonst so macht: gegessen, gelacht, geschlafen, Ausflüge in die Gegend, Wein getrunken. Vor allem aber: Es wurde kommuniziert. Über alles Mögliche. Über wirklich alles Mögliche. Beim Kochen, beim Ausfliegen – einfach so oder über Themen, die sich ergeben haben. Über uns selbst, über andere. Über Dinge, die wir aus den Medien kennen. Es war also, wie es so ist.

Das Besondere aber war, dass wir Musik gemacht haben. Was für Musik es war, ist völlig egal – es hätte jede Musik sein können. Über die Musik wurde natürlich viel geredet, schon deshalb, weil wir geprobt haben, weil wir Varianten ausprobiert haben, weil wir uns immer wieder unterbrechen mussten usw. Jeder und jede, der und die schon einmal Musik gemacht hat, kennt das. Aber das ganz Besondere war tatsächlich nicht die Unterbrechung der Musik durch Kommunikation, sondern die Unterbrechung der Kommunikation durch die Musik.

Musik wird gerne als Zeitkunst beschrieben. Sie ist Zeitkunst, weil sie mit dem Nacheinander und der Gleichzeitigkeit von Tönen arbeitet, mit den Anschlüssen, die sich durch dieses Nacheinander ergeben und mit der Gestalt, die sich erst dadurch einstellt, dass die Musik gehört wird. Der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, hat vor etwa 100 Jahren am Hören einer Melodie die Funktionsweise des Bewusstseins erklärt: Die bloßen Töne seien noch keine Musik, denn es seien nur Töne nacheinander. Erst die verbindende Eigenleistung des Bewusstseins mache aus den einzelnen Tönen Musik. Das Bewusstsein hört noch die bereits verklungenen Töne, um sie mit den gerade wahrgenommenen in Beziehung zu setzen. Zwischen der Musik und der Funktionsweise des Bewusstseins scheint also eine Verwandtschaft zu bestehen.

Der Soziologe Peter Fuchs hat Husserls Argument umgedreht: Er hat darauf hingewiesen, dass das Besondere der Musik als Kunstform darin bestehe, dass sie die Operationsweise des Bewusstseins unterstütze, kopiere, nachverfolge. Musik verweist uns auf den Zusammenhang von Bewusstseinsereignissen, auf das Nacheinander von Gedanken, Wahrnehmungen. Musik ist genauso aufgebaut. Sie geschieht hier und jetzt, genau wie unser Bewusstsein, aus dessen Linearität wir nicht ausbrechen können. Man muss wohl hinzufügen, dass es nicht nur das Bewusstsein ist, sondern auch der Körper, der von der Musik affiziert wird – durch den Rhythmus, durch das Hören, durch den Wechsel der Geschwindigkeiten usw. Musik ist also eine stark ans Psychische und Physische gebundene Form.

Vielleicht wird hieran deutlich, warum die besondere Erfahrung mit dem Chor nicht die Unterbrechung der Musik durch Kommunikation war, sondern die Unterbrechung der Kommunikation durch Musik – und zwar durch gemeinsames Musizieren. Was mir in den zehn Tagen geradezu körperlich deutlich geworden ist, ist die Erfahrung mit den Grenzen der Kommunikation. Viele denken, Kommunikation sei ein Verbindungsmedium, ein Medium der Nähe, ein Medium das Gemeinschaft stiften könne. Das mag sogar stimmen, aber Kommunikation macht vor allem auf die Intransparenz des anderen aufmerksam. Es macht auf Missverständnisse aufmerksam. Es verweist darauf, dass wir kommunizieren müssen, nicht obwohl, sondern weil der andere nicht erreichbar ist. Kommunikation spielt letztlich mit der Nichterreichbarkeit des anderen und baut damit ganze Welten auf, die den anderen kommunikativ, meistens sprachlich disziplinieren müssen, damit so etwas wie Gemeinschaft entsteht. Kommunikation steht immer unter dem Risiko der Negation. Man kann „Nein“ sagen, und man kann nur „Ja“ sagen, weil es das „Nein“-Risiko gibt.

Das gemeinsame Musizieren dagegen ist eher, vielleicht wie das Tanzen, eine Form der nicht sinnhaften Synchronisation. Bewusstseine verschmelzen hier natürlich nicht – Gott sei Dank! Hätte das gedroht, wäre ich nicht mit nach Italien gefahren! Aber es kommt dabei zu Parallelisierungen, zu operativen Synchronisationen, die die Form des Bewusstseins, also des Nacheinanders und der einlinigen Anschlussfähigkeit annehmen. Es entsteht dann ein Eigensinn, und man kann Dinge, die man sinnhaft und bewusst nicht könnte, gerade weil Rhythmus und Tongefühl sich wie von selbst einstellen.

Interessant ist, dass daraus eine Nähe entsteht, die nicht so riskant ist wie kommunikative Nähe. Es ist eine operative Nähe, die keine Kommunikation im Sinne von Mitteilungen oder Informationen im engeren Sinne braucht, sondern nur den Anschluss. Vielleicht kann man das eher „Mimesis“ nennen. Wie sehr sich das von Kommunikation unterscheidet, kann man sehen, wenn etwa durch Fehler oder durch den Dirigenten oder was auch immer unterbrochen wird. Dann stellt sich alles auf das Distanzmedium Kommunikation um, das tatsächlich riskanter ist als die Zeitkunst, die sich von selbst reproduziert – von selbst heißt: Man muss sie tun. Wenn man sie thematisiert, ist man bereits raus aus der Musik und drin in der Kommunikation.

Was kann man daraus lernen? Nun, nicht viel. Man könnte kritisch diskutieren, ob dieser Kommunikationsbegriff so funktioniert. Aber darum geht es hier nicht. Ein wenig lernen lässt sich aus der Erfahrung jedenfalls, dass Kommunikation entgegen ihrer eigenen sinnhaften Behauptung weniger Nähe produziert, als man eben sagen kann, weil man es nur sagen kann. Die Unterbrechung der Kommunikation durch Musik verweist also vor allem auf Kommunikation.

Das Spannende an der Musik ist vielleicht, dass all das Gesagte für jede Form der Musik gilt, unabhängig von Stil, Epoche und Programm. Als Kunst verweist sie jedenfalls auf die Form. Auch auf die Form der Kommunikation die eben anders als Musik einen Eigensinn aufweist, der dem Psychischen fremder ist als die Musik.

Übrigens: Das Reden mit den Leuten in Italien habe ich auch genossen. Und das Kursbuch wird weiter in Schriftform vorliegen und nicht vertont.

Armin Nassehi

MONTAGSBLOCK /39, 21. August 2017